Von Dorit Koch
Vier Minuten hat er für das Interview mit Angela Merkel bekommen - und was macht Benjamin von Stuckrad-Barre? Er fragt Deutschlands mächtigste Politikerin: „Wie war die Thüringer Wurst, Frau Bundeskanzlerin?“ „Ging so“, gibt die Frau im wieder einmal „seltsamfarbenen“ Jackett knapp Auskunft über ihren Imbiss gerade in Erfurt. Vermutlich erwartet die Kanzlerin nun gefälligst ernsthafte politische Fragen, bleiben schließlich nur vier Minuten Zeit. Eben, nur vier Minuten, denkt sich auch Stuckrad-Barre, und hakt hartnäckig nach - in Sachen Wurst: „Kalt?“ Merkel: „Kalt war se nich. Aber, ich sag mal, zu stark gewürzt.“ Ein Gespräch, das „völlig gaga, aber reizend war“, sagt Stuckrad-Barre heute. Seine Begegnung mit der Kanzlerin schildert der Bestsellerautor in seinem am Montag erschienen Buch „Auch Deutsche unter den Opfern“.
Mit Stift und Notizbuch, Fotoapparat und großer leerer Tasche für diverse Dinge, die ihm beim Schreiben und Erinnern helfen („Ich sammle auf Terminen alles ein - bis hin zur Wurstpappe“), ist er losgezogen. Nachdem er ein Jahr lang mit Filmregisseur Helmut Dietl an einem Drehbuch geschrieben hatte, reizten ihn Texte, „die in überschaubarem Zeitraum fertig werden“. Als Gesellschaftsreporter streift der Pop-Literat („Soloalbum“) seither durch Berlin und ganz Deutschland. Kein Gesellschaftsreporter, der die Handynummer von Robbie Williams oder die Blutgruppe von Paris Hiltons Chihuahua braucht. Keiner unter dem Motto „Neulich im Borchardt“, sagt er, kein - was man gemeinhin unter diesem Begriff versteht - Abend für Abend an Promi-Treffs lauernder Society-Reporter. Der „Spiegel“ lobt den 35-Jährigen als einen der „genauesten deutschsprachigen Gesellschaftsreporter“: „Im Sinne von Gesellschaft. Im Sinne von Reporter.“
Ums „Sehen“ geht es auch Stuckrad-Barre, nicht aber ums „Gesehen werden“. Wenn er Menschen porträtiert, wäre er „am liebsten unsichtbar“, erzählt der Autor, der für sein Buch mehr als 50 seiner Texte aus den vergangenen Monaten und Jahren zusammengestellt und überarbeitet hat. Reportagen und Interviews, Porträts und Erzählungen, in denen der „brillante Kulturjournalist“ („taz“) meisterhafte Beobachtungsgabe beweist. Stuckrad-Barre begibt sich ins Geschehen, ist mittendrin, sieht, was andere nicht sehen: ein Blick, eine Geste, ein scheinbar nebensächliches Detail, dass das vermeintlich Unwichtige plötzlich wichtig macht. Quer durch alle Bereiche treibt es ihn - vom Abwrackhof zum roten Teppich, von der Eröffnung eines Outlet-Centers zum Obama-Besuch, vom Physikkurs für Mädchen bis zur Google-Party („Am besten gefällt mir an Google die Höflichkeit, mit der es einen berichtigt, wenn man sich bei einer Sucheingabe vertippt hat.“)
Mit Dieter Hildebrandt schaut Stuckrad-Barre Fernsehen, mit Til Schweiger sitzt er im Kino, auf Tom Cruise wartet er am roten Teppich, auf Charlotte Roche („Feuchtgebiete“) vergeblich. Mit der Juso-Vorsitzenden Franziska Drohsel fährt er Zug: „Nürnberg Hauptbahnhof, die Zukunft der SPD steigt aus....Einer der Juso-Jungs möchte jetzt erst einmal ein Eis essen. Aber die Vorsitzende sagt, dafür sei jetzt wirklich keine Zeit, in einer halben Stunde gehe es los, Thesen verabschieden.“ Polterabend beim Promi-Friseur Udo Walz, gefilmt von zahlreichen „Kamerakameraden“: „Walz nimmt einen Besen, sagt, dass er noch nie gefegt habe, und alle freuen sich.“ Gespräch mit Oliver Kalkofe über das Fernsehen und Marcel Reich-Ranicki: „Für den ist ja 3sat schon Super-RTL.“ Den einstigen SPD-Spitzenkandidaten Frank-Walter Steinmeiner sieht der Autor „Aug' in Augenattrappe“ mit einem Roboter, mit Grünen-Chef Cem Özdemir isst er im Asia-Imbiss und FDP-Chef Guido Westerwelle erlebt er mal ganz anders.
Deutschland alle paar Jahre auf diese Weise zu beschreiben, ist Ziel des Autors solcher Bücher wie „Deutsches Theater“. „An diesem Buch schreibe ich mein Leben lang“, sagt er, „auch dieses Werk hätte ich wieder "Deutsches Theater" nennen können“. Stattdessen provoziert nun der Titel „Auch Deutsche unter den Opfern“. Man könnte vermuten, dass es sich um kritische Gedanken zur militärischen (Afghanistan) und medizinischen (Gesundheitsreform) Lage der Nation handelt, schreibt Helmut Dietl in seinem Vorwort. Man würde dem Autor aber „unrecht tun, wenn man ihm unterstellt, den Leser nicht bewusst in die Irre zu führen“. „Er weiß schon, was er gemeint hat, auch wenn er es nicht gleich sagt“.
Und was meint Stuckrad-Barre? „Den Titel habe ich bereits sehr lange im Kopf, ich wollte schon mein allererstes Buch so nennen“, erzählt er. „Als ich bei Friedrich Küppersbusch gearbeitet habe, war das ein geflügeltes Wort zwischen uns - dieser groteske Zusatz bei Katastrophenmeldungen: "Auch Deutsche unter den Opfern"! Damit rückt die Katastrophe näher, wird fassbarer, vorstellbarer – und gleichzeitig stellt sich die Frage: Was ist dann eigentlich mit den anderen? Ist deren Schicksal weniger betrauernswert?“.
Literaturangabe:
VON STUCKRAD-BARRE, BENJAMIN: Auch Deutsche unter den Opfern. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 336 S., 14,95 €.
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