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„Beograd Gazela“ – Leben in Baracken

„Reiseführer in eine Elendssiedlung“ von Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann, und Can Gülcü

© Die Berliner Literaturkritik, 12.01.09

 

Elendssiedlungen sind Teil südosteuropäischer Realität, auch in Rest-Jugoslawien, in Serbien. Ungefähr 150 informelle Siedlungen gibt es allein in Belgrad, keine liegt jedoch so exponiert wie die unterhalb der Autobahnbrücke Gazela, mitten in der Stadt, im dicht bebauten Bezirk Novi Beograd, in unmittelbarer Nähe der besten Hotels, des wichtigsten Veranstaltungszentrums sowie der größten Sporthalle der Stadt. Täglich fahren Zehntausende über die Most Gazela, die Brücke der Autobahn E 75; über die Eisenbahntrasse, die längsseitig den Slum begrenzt, führt die internationale Transitstrecke Deutschland-Türkei. Der Blick aus dem Zug- oder Autofenster fällt auf notdürftig errichtete Behausungen, auf Unmengen von Müll, auf Autowracks, auf unbefestigte Wege, die durch die Siedlung führen. Doch wer lebt hier in den Hütten und Baracken? Wie sieht der Alltag der Bewohner aus? Wie gestalten sich ihre Lebensbedingungen?

„Wer diesen Fragen nachgeht, wird vor Ort kaum eine Antwort finden, da diese Siedlungen in Serbien weitgehend ignoriert werden. Im Ausland sind sie nahezu unbekannt, obwohl die europäischen Wohlstandsländer – durch Rückführung von abgewiesenen MigrantInnen – erheblich zu ihrem Entstehen und ihrem raschen Wachstum beigetragen haben“, schreiben Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü. Die drei Künstler aus Graz und Wien besuchten die Belgrader Elendssiedlung unter der Autobahnbrücke über Monate, sie recherchierten vor Ort, sprachen mit den Bewohnern, dokumentierten deren Alltag und veröffentlichten ihre gesammelten Daten, Fotos und Eindrücke in dem Reiseführer „Beograd Gazela“. Dieser Band ist eine Bestandsaufnahme mit Gebrauchswert. Sein Ziel: unseren Blick zu schärfen, einen weißen Fleck im Zentrum Belgrads neu zu definieren, ihn zu integrieren in die Topografie der Stadt.

Beograd Gazela“ ist ein ungewöhnliches Projekt, ein irritierender und gleichwohl gelungener „Spagat zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzung“: Drei westeuropäische, privilegierte Kunstschaffende treffen auf eine marginalisierte und diskriminierte Minderheit, überwiegend serbische Roma, daneben Albanisch sprechende Ashkali, Flüchtlinge aus dem Kosovo, Wirtschaftsemigranten und Alteingesessene. Die österreichischen Besucher sprechen weder Serbisch noch Romani, erst Dolmetscher ermöglichen die Kommunikation: „Jene, die mit uns gesprochen haben, taten es aus sehr unterschiedlichen Gründen: Einige mochten uns einfach, andere waren froh, dass sich jemand von Außerhalb für sie interessiert, es gab auch welche, die sich davon einen Vorteil erhofften“, so Eduard Freudmann.

Die Autoren begegnen zwei professionellen Fotografen, die an einem Projekt über die Siedlung arbeiten, zusammen mit einem dritten Profi und interessierten Einheimischen bannen diese den Alltag der Beograd Gazela ins Bild. Ausdrucksstarke Farbaufnahmen, großflächig und ganzseitig abgedruckt, stehen gleichberechtigt neben der Dokumentation der Fakten – unaufgeregt sachlich, distanziert aufbereitet in einer Form, die gemeinhin mit Urlaub, Sehenswürdigkeiten und Kultur assoziiert wird. Der von Aggermann, Freudmann und Gülcü kompilierte „Reiseführer“ benutzt die gleichen aus der Reiseliteratur bekannten Kategorien („Wohnen“, „Landschaft, Natur, Umwelt“, „Wirtschaft“), er ist jedoch frei von Ironie oder gar Zynismus, sondern lädt, ganz im Gegenteil, zur vorbehaltslosen Neuerkundung einer bisherigen „terra incognita“ ein.

Grundlage des Buches bilden außer wiederholten Besuchen in der Elendssiedlung Interviews mit Politikern, Soziologen, Vertretern von Hilfsorganisationen und Repräsentanten von Roma-Vereinen. So ergibt sich ein umfassendes Bild, das stellvertretend für die Lage der Minderheiten, speziell der Roma in Serbien steht: „Sie werden bei der Arbeit und in der Schule beschimpft und schikaniert, bereits beim Betreten eines Geschäftes des Diebstahls verdächtigt, ihre Ausweise werden bei jeder sich bietenden Gelegenheit kontrolliert. PassantInnen halten ihre Taschen fest, wenn sie Roma am Gehsteig entgegenkommen sehen [...]. Gewalttätige Übergriffe sind nicht selten.“ Und: „Die gesellschaftliche Diskriminierung findet auf behördlicher Ebene ihre Fortsetzung.“

Der negativen Fremdzuschreibung korrespondiert ein brüchiges Selbstbild der Slumbewohner; Unsicherheit, Resignation und auch Scham führen in einen Teufelskreis von Ausgrenzung, Ablehnung und Verelendung. Kann man diesen durchbrechen? Mit einem „Reiseführer“ allein nicht. Er kann im besten Fall eine Möglichkeit sein, genau hinzusehen, wahrzunehmen, dass mitten in Belgrad Menschen in Armut, Schmutz, unter unglaublichen hygienischen Bedingungen ihr Leben fristen, Menschen, denen der Zugang zur Mehrheitsgesellschaft versperrt ist – aus Unkenntnis, bewusster Ablehnung, aus mangelnder sozialer Sensibilität.

Bisher liegt der Band „Beograd Gazela“ nur auf Deutsch vor, für das Frühjahr 2009 sind Ausgaben auf Romani, Serbisch und Englisch geplant. Es lässt hoffen, nicht nur für die Menschen unter der Autobahnbrücke. Ende 2007 lebten hier rund 1.000 Personen in 212 Haushalten – hinter Kartons, Plastikplanen und Brettern, ohne Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, die meisten ohne Strom. Über die Hälfte lebt vom Sammeln von Müll und Altpapier, viele haben keine Ausweispapiere, können weder lesen noch schreiben. Sie sind einige, von schätzungsweise über 100.000 Ausgegrenzten allein in Belgrad.

Literaturangaben:
AGGERMANN, LORENZ/FREUDMANN, EDUARD/GÜLCÜ, CAN: Beograd Gazela. Reiseführer in eine Elendssiedlung. Drava Verlag, Klagenfurt 2008. 223 S., 19,80 €.

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