Von Jutta Schütz
Der kleine Wanja kennt weder Sonne noch Regen. Er ist fünf Jahre alt und noch nie nach „draußen“ gekommen. Der Fünfjährige kennt nur seine trostlose Bleibe im Moskauer Babyhaus Nr. 10. Hier landen Kinder, die von überforderten Eltern abgegeben werden oder Waisen sind. Auch alkoholkranke Mütter werden gedrängt, ihr Baby in staatliche Obhut zu geben. Es macht keinen Unterschied, ob die Kleinen geistig oder körperlich behindert oder einfach nur schwach sind - sie werden lieblos weggeschlossen, versteckt vor der Gesellschaft und wie abgelegte Gegenstände verwahrt. „Was ist die Sonne?“, fragt Wanja, als er im Jahr 1994 das erste Mal den Himmel sieht.
Der Journalist Alan Philps beschreibt in seinem Buch „Wolkengänger“ die authentische Geschichte des russischen Jungen, der sich in der Isolation selbst das Sprechen beibringt und dem zunächst keiner eine Chance gibt. Trotz massiver bürokratischer Hindernisse wird Wanja gerettet. Doch der Leser wird daran erinnert, dass es eine Ausnahme mit glücklichem Ausgang ist - für viele Kinder gibt es keine Hoffnung.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden die eisernen Regeln in den staatlichen Babyhäusern etwas gelockert, so dass auch freiwillige Helfer Zutritt bekommen. Das selbst um die Existenz bangende Personal in Haus Nr. 10 sieht Fremde aber nicht gern. Die Besucher stören die stumpfen Abläufe, in denen die Kinder kein Spielzeug und wenig Zuwendung bekommen. Doch Wanja hat Glück, er kann sich bei der Russin Wika, die aus kirchlichen Kreisen kommt, und bei Sarah, eine britische Helferin, bei einem Besuch bemerkbar machen. Der Junge kam als Kind einer Alkoholikerin zu früh zur Welt, wog viel zu wenig und die Ärzte meinten, er würde nie laufen.
Doch bis Wanja dem Zwangssystem entkommt, ist es ein weiter Weg. Mit sechs Jahren ist er zu groß fürs Babyhaus - er wird in eine Irrenanstalt für Erwachsene gesteckt. Der Alltag dort ist erschütternd. So werden die weggesperrten Kinder ruhig gespritzt. Auch wenn es zwischenzeitlich nicht mehr so aussieht, dass die Schikanen der Behörden ein Ende haben könnten: Nach jahrelangen Querelen wird der aufgeweckte Lockenkopf von einer Amerikanerin adoptiert und bekommt in Pennsylvania ein Zuhause und ein neues Leben. Aus Wanja wird John Lahutsky.
Im Rückblick spricht John als Mit-Autor des Buches von einem russischen Kinder-Gulag. Er hat durchlebt, wie kleine Jungen und Mädchen als bildungsunfähig abgestempelt in Gitterbetten auf nackten Matratzen hinwegdämmern. Bis heute würden in den einst von Stalin geschaffenen Einrichtungen Kinder verschwinden, schreibt er. Wenn seine Geschichte nur ein Kind vor der Hölle bewahren könne, sei es der Mühe wert, finden John und seine neue Mutter Paula.
Die Frau des Briten Alan Philps, der damals als Russland-Korrespondent für eine Zeitung in Moskau war, hatte den verlassenen Jungen nach ihrem ersten Besuch im Babyhaus nicht vergessen können und sich dann zusammen mit ihrem Mann für Wanja eingesetzt. Das Buch wolle die Menschen nicht in Gut und Böse einteilen, schreibt Alan Philps. Ihm gehe es um Mitgefühl statt Gleichgültigkeit.
Unter der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in Russland leiden besonders die Familien, heißt es im Nachwort. Weiterhin gebe es jährlich mehr als 100.000 neue Kinder, die ohne elterliche Fürsorge auskommen müssten. Die Zahl der Heimkinder werde nicht geringer.
Literaturangabe:
PHILPS, ALAN / LAHUTSKY, JOHN: Wolkengänger. Kiepenheuer, Berlin 2010. 340 S, 19,95 €.
Weblink: Kiepenheuer