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Drei neue Berlin-Bücher

Wilfried Rott, Jens Arndt und Rudolf Lorenzen über die Geschichte Berlins seit 1948

© Die Berliner Literaturkritik, 01.06.10

Von Jenny Schon

Dass jetzt eine Ernst-Reuter-Stiftung gegründet wurde ist überfällig und wird vielleicht als eine der wenigen Einrichtungen, in denen noch spätere Generationen die Westberliner Geschichte nachvollziehen können, die eine einmalige, besondere und untergegangene ist, die Zeitläufe überdauern. Die beim Landesarchiv Berlin angesiedelte Einrichtung soll das Wirken Reuters erforschen. Dazu unterzeichnete Reuters Sohn Edzard den Stiftungsvertrag gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und dem Direktor des Landesarchivs, Uwe Schaper. Ernst Reuter war von 1948 bis 1953 politisches Oberhaupt von Berlin - zunächst als Oberbürgermeister und nach der Verfassungsänderung als Regierender Bürgermeister.

Schon jetzt ist der Grund für die Existenz Westberlins bei vielen unbekannt. Wilfried Rott hat in seinem umfassenden Werk minutiös Fakten und Material zusammengetragen, warum und wie Westberlin geworden ist. Zunächst nennt Rott diese Entstehung die „Geburt einer Halbstadt“, zunächst hat noch niemand an einen längeren, vielleicht gar dauerhaften Zustand gedacht.

Gewaltgeprägte Szenen spielen sich am 6. September 1948 im Neuen Stadthaus, als Sitz des von Bomben zerstörten Roten Rathauses, in Berlins Mitte ab. Mit Lkws werden wohlorganisierte Demonstranten angekarrt. Die von der aus der Fusion von KPD und SPD hervorgegangenen SED gelenkten Demonstranten stürmen die Stadtverordnetenversammlung. Otto Suhr, als Vorsitzender, und der Oberbürgermeister Ferdinand Friedensburg, vertagen die Sitzung, während unter den Stadtverordneten die Parole ausgegeben wird, sich in der „Taberna Academica“ zu versammeln, womit die Mensa der Technischen Universität in Berlin-Charlottenburg gemeint war. Zurück bleiben die SED-Fraktion und die Demonstranten. Die Mitglieder der anderen Fraktionen – SPD, CDU, LPD – geben auf ihrer ersten Sitzung im Westteil der Stadt zu Protokoll, dass aufgrund des Drucks von SED und sowjetischer Besatzungsmacht vorerst keine Sitzungen mehr im Ostteil der Stadt stattfinden werden. Untermalt werden die Beratungen vom Dröhnen viermotoriger Flugzeuge, die seit dem 24. Juni 1948 – dem Beginn der sowjetischen Blockade – den Westteil der Stadt mit dem Allernotwendigsten versorgen.

Ebenfalls am 24. Juni 1948 war Ernst Reuter mit überwältigender Mehrheit zum Oberbürgermeister gewählt, aber am Veto des sowjetischen Stadtkommandanten Generalmajor Alexander Kotikow gescheitert. Erst später bekannte er sich zur Ablehnung mit der Begründung, dass er an der antifaschistischen Vergangenheit Ernst Reuters zweifelt. Dieser war 1935 nach zweimonatiger KZ-Haft über London in die Türkei emigriert. Kotikow behauptete nun, Reuter habe im Exil mit dem NS-Regime kollaboriert, was schon damals nicht bewiesen und später widerlegt wurde.

Er wurde vor allem während der Berlin-Blockade bekannt mit seiner Rede am 9. September 1948 und dem Satz: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“, als er vor mehreren hunderttausend Menschen vor dem zerstörten Reichstag sprach.

Rott resümiert: „ Was am 9. September von Reuter formuliert wurde, das ist der Geist, der auf Jahre das sich langsam entwickelnde West-Berlin prägen wird. Das Bewusstsein eines stellvertretenden Kampfes für die Freiheit, gegen Umzingelung und Abschnürung und die kämpferische Attitüde der Selbstbehauptung. In anderen Reden hat Reuter dies noch deutlicher formuliert, wenn er vom ‚Pfahl im Fleisch’ der Ostzone sprach oder West-Berlin mit Stalingrad verglich, auch wenn noch keine Mauer deutlich machte, wie eingekesselt die Stadt war. Aber nie hat er den Anspruch, das wahre und freie Berlin zu verkörpern, wirksamer, effektvoller vertreten. Hier legte er die Grundlage für ein sich gegen den Osten behauptendes West-Berlin“ (Rott, S. 17).

Ein weiterer charismatischer Bürgermeister war Willy Brandt. Zunächst Chef des Berliner Verbindungsbüros der SPD, die Kurt Schumacher von Hannover aus leitete, fühlte er sich allmählich auf der „Insel im roten Meer“ wohl, wurde Kreisvorsitzender der SPD im Bezirk Wilmersdorf, 1955 zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt, nachdem Otto Suhr aus diesem Amt zum Regierenden Bürgermeister aufgerückt war. Da Otto Suhr zunehmend kränkelte, konnte Brandt als sein Vertreter öffentliche Aufmerksamkeit erlangen und während des Ungarnaufstands damit punkten, dass er die aufgebrachte Menge am Abend des 5. November 1956, die ihren Protestmarsch zur sowjetischen Botschaft Unter den Linden angetreten hatte, die im sowjetischen Teil Berlins lag, zum Mahnmal für die Opfer des Stalinismus nach Charlottenburg umleitete.

Brandt wurde zum Liebling der öffentlichen Meinung und der bürgerlichen Presse. Nach dem Ableben von Otto Suhr wurde Willy Brandt am 3. Oktober 1957 mit klarer Mehrheit zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Wenige Monate später schaffte er es auch, den Landesvorsitz der SPD zu erringen. „Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin war eine Größe sui generis im staatspolitischen Gefüge. Durch den Vier-Mächte-Status war er der Repräsentant West-Berlins gegenüber den Alliierten, war der Gastgeber, wenn deren Staatschef in die Stadt kamen“ (Rott S. 130).

Nach fast zehnjähriger Dienstzeit trat Willy Brandt am 1. Dezember 1966 als Regierender Bürgermeister zurück. Er hatte sich entschlossen, als Außenminister in die Große Koalition unter der Kiesinger-Regierung nach Bonn zu gehen. Sein Nachfolger in West-Berlin wurde Heinrich Albertz. In die Regierungszeit Brandts fielen das Berlin-Ultimatum Chruschtschows und der Mauerbau. Obwohl Ulbricht noch am 15. Juni 1961 verkündet hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, wurden die Kontrollen der Volkspolizei immer schärfer, womit der DDR die existenzbedrohende Abwanderung ihrer Bevölkerung unterbinden wollte.

1959 hatten 145.000 Menschen, 1960 200.000 Menschen die DDR verlassen, im Sommer 1961 waren es täglich mehr als tausend. In der Nacht zum 13. August 1961 besetzte die Polizei die Bahnhöfe an den Sektorengrenzen, der S- und U-Bahnverkehr zwischen Ost- und West-Berlin wurde gekappt. Am Sonntagmorgen, dem 13. August 1961, war ab 3 Uhr die gesamte Grenze zwischen Ost-Berlin und West-Berlin gesperrt. Es wurden spanische Reiter aufgestellt, Drahtsperren gezogen, Presslufthämmer zogen am Brandenburger Tor einen Graben. Berlin war endgültig gespalten. Die Westmächte beschränkten sich auf ihre Sektoren und sahen daher nach dem Mauerbau keinen Handlungsbedarf. Brandt schrieb – entgegen protokollarischen Regeln – an den Präsidenten Kennedy persönlich. Seine Antwort vom 18. August 1961 fiel enttäuschend aus. Erst als ihm zugetragen wurde, dass die Menschen in der Stadt das Vertrauen in die USA verlieren, entschloss sich Kennedy, seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson, Luftbrücken-General Lucius D. Clay und eine Kampfeinheit der US-Armee zu schicken, die am 20. August 1961 unbehelligt in West-Berlin ankamen. Erst zwei Tage später kam Bundeskanzler Konrad Adenauer nach West-Berlin. Diese verspätete Präsenz verziehen die Berliner ihm nie. Als der Kaiserdamm in Adenauerdamm umbenannt werden sollte, verhinderten die West-Berliner dies. Der Kaiserdamm heißt heute noch so.

Nach dem Schock der Absperrung West-Berlins war nichts mehr wie vorher. Die Arbeitskräfte aus dem Osten waren den West-Berliner Betrieben abhanden gekommen, der Warentransfer, wovon viele Kleinbetriebe in der Nähe der Grenze lebten, war unterbrochen. Die Stimmung der Bevölkerung war gedrückt. Dennoch wurden ziemlich schnell die West-Berliner Behörden aktiv und warben in Westdeutschland um Arbeitskräfte. Die Verfasserin war Ende 1961 eine unter den ersten Tausend jungen Leuten, die als Angestellte von Köln nach West-Berlin geworben wurde.

Von diesen Bewegungen an der Basis schreibt Wilfried Rott, der erst seit 1977 für den SFB tätig wurde, wenig. Eigentlich ist es abenteuerlich, wie schnell sich am Ku’damm das Alltagsleben wieder einpendelte. Nur die Besucher aus dem Osten blieben fern. Die Ecke um Kranzler war belebt wie vor dem – hier traf man sich, hier trat an die Gemälde der Pflastermaler, Mona Lisa und Käthe Kollwitz waren besonders beliebt, an der Normaluhr am Bahnhof Zoo, wo die Fernzüge aus dem Westen ankamen, trafen sich junge Leute zum Rendezvous. Darüber finden wir nichts bei Rott, wohl aber, dass nach den anfänglichen Abwanderungen nach Westdeutschland, 50.000 im Jahr wären katastrophal gewesen, sich die Bilanz von Weg- und Zuzügen Ende 1962 ausgeglichen und 1963 bereits ein Zugewinn zu verspüren war (Rott S. 180).

Mit Wirkung vom 1. Juli 1962 waren Gesetze zur Berlin-Hilfe in Kraft getreten. Arbeitsnehmer bekamen eine Berlin-Zulage, was aber nicht der alleinige Grund war, dass immer mehr junge Leute aus Westdeutschland zuzogen, denn trotz der Zulagen verdiente man dort im Schnitt immer noch mehr als in der eingemauerten Stadt. Da in West-Berlin keine Sperrstunden den Rundum-Kneipen-Besuch behinderten, wurde die Stadt allmählich eine beliebte Touristenattraktion für den Kurzurlauber, Überblick an der Mauer in den Osten, besonders in Kreuzberg und am Potsdamer Platz inbegriffen.

Viele junge Männer zogen nach West-Berlin, um der Bundeswehr zu entgehen, die Wehrpflicht galt hier nicht. Bei den massenhaften Demonstrationen der Studenten, die bereits 1966/67 begannen, ist der Anteil der männlichen Bevölkerung überproportional hoch. Frauen waren eher die kleine radikale Minderheit, aber das waren sie im öffentlichen Leben der sechziger Jahre auch anderswo. Bis zu der sogenannten achtundsechziger Bewegung hatte sich bereits in West-Berlin eine kritische Jugend etabliert, die besonders an den Universitäten und im Kulturbereich für Aufmerksamkeit sorgte.

Rott geht zwar auf die politischen Vorgänge, die zu den Studentenunruhen führten, im Detail ein, weiß aber wiederum wenig von der Stimmung unter den jungen Leuten und der übrigen Bevölkerung zu berichten. Erst in den siebziger Jahren haben Bürger- und Friedensbewegungen breite Kreise in West-Berlin erfasst. So verhinderte die WUB, Wählergemeinschaft unabhängiger Bürger in Berlin-Zehlendorf den Ausbau der Potsdamer/Berliner Straße zu einer autobahnähnlichen Untertunnelung. Dass die WUB in Nullkommanichts in das Abgeordnetenhaus kam, gilt für viele als der Anfang der parlamentarischen Alternativbewegung.

Rudolf Lorenzen, ein Zeitzeuge dieser Zeit, hat ganz anders als Rott den Blick auf der gleichen Ebene mit den West-Berlinern. Er dröselt West-Berlin von den Randgebieten auf, zum Beispiel führt er das Kuriosum der ganz vom Osten eingekeilten West-Berliner Exklave Steinstücken vor.

Oder der aus Kriegstrümmern bestehende Teufelsberg, ein weiteres Kunstgebilde: Er erscheint in der Nachbetrachtung wie der Zauberberg schlechthin. „In langen Kolonnen schieben sich die Wagen voran. Sie kommen aus den Dörfern im Tal – aus Moabit und Borsigwalde, aus Kreuzberg und Neukölln, aus Wilmers-, Schmargen- und Mariendorf. Sie kriechen bergan über die Serpentinen von Charlottenburg in das Massiv des Grunewalds […]“ (Lorenzen, S. 55).

Er schippert mit der Weißen Flotte die Havel entlang, über die Kanäle der Spree, bis die Patrouillenboote der NVA die Weiterfahrt unmöglich machen, er fährt die U-Bahnstrecken unter Ost-Berlin entlang, deren Ausgänge im Osten versperrt sind und 680 km Wanderwege in dem  7.760 Hektar großen Wald West-Berlins schafft er mühelos. Der 1922 in Lübeck geborene Lorenzen lebt seit 1955 als freier Schriftsteller in Berlin, er nennt sich „Boulevardier“. Gerade weil er sich weder von der Frontstadtpanik noch von der Kleinkariertheit, die es in West-Berlin auch zuhauf gegeben hat, anstecken lässt, flaniert man mit ihm in einem „Paradies zwischen den Fronten“.

Eine Spurensuche West-Berlins geht nicht ohne die Erwähnung der Glienicker Brücke. Jens Arndt, selber kein Klein-Glienicker, hat die Zeitzeugen des von der Wannseer Königstraße nur ahnenden Ortes befragt, wie es war, so nah an West-Berlin zu wohnen, so abgesperrt zu sein, und nur Besuch mit Sondergenehmigungen zu empfangen dürfen. Herausgekommen ist ein sehr interessanter Bildband mit historischen Fotos, größtenteils aus Privatbesitz.

Im Schloß Babelsberg residierte nicht Friedrich Wilhelm IV., sondern sein Bruder Wilhelm I. (Arndt, S. 18). Die Sacrower Heilandskirche hat anstelle von Karl Friedrich Schinkel 1844, als Schinkel bereits verstorben war, Ludwig Persius für Friedrich Wilhelm IV. geschaffen (Arndt, S. 83). Auch verstarb der Große Kurfürst 1688 und nicht 1713, das war Friedrich I., sein Sohn. Diese Fehler sind ärgerlich und hätten bei einem guten Lektorat nicht sein müssen. Dennoch trübt es nicht den Gesamteindruck, dass Jens Arndt ein spannendes Buch gelungen ist mit den persönlichen Schicksalen von Zeitzeugen und Details aus Stasi-Unterlagen.

Wer die offizielle Seite West-Berlins nachlesen will, sich über Gesetze, Regelungen und politische Gepflogenheiten informieren will, ist mit W. Rotts Buch gut beraten. Vom Alltag in West-Berlin, der sich seit seiner Existenz von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stark verändert hat, erzählt Rott wenig.

Auch das von Lorenzen aufgezeigte West-Berlin ist unwiederbringlich nach der Wende verschwunden. Das seinerzeit eingemauerte und verwunschene Klein-Glienicke auf der West-Berliner Wannseeinsel ist heute ein beliebter Ausflugsort für Berliner, Potsdamer und Auswärtige, die statt der Agenten über die Glienicker Brücke anreisen.

Viele Ansätze eines gemeinsamen Westberliner Lebens jedoch, einer Schicksalsgemeinschaft sozusagen, sind im Trubel der Wende verlorengegangen. Die gemeinsame Geschichte der vielen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aus ihrer vielfältigen Herkunft muss erst wieder gefunden und neue Gemeinsamkeiten entwickelt werden, denn Berlin ist ja nicht nur die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und Regierungssitz, es ist vor allem Wohn- und Arbeitsort von Millionen Menschen.

Literaturangaben:

ROTT, WILFRIED: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990. C.H. Beck Verlag, München 2009. 478 S., 24,90 €.

ARNDT, JENS: Glienicke. Vom Schweizerdorf zum Sperrgebiet. Nicolai Verlag, Berlin 2009. 192 S., 29,95 €.

LORENZEN, RUDOLF: Paradies zwischen den Fronten. Reportagen aus Berlin (West). Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 226 S., 12 €.

Weblinks:

C.H. Beck Verlag

Nicolai Verlag

Verbrecher Verlag


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