Von Mirco Drewes
Dr. Armin Leidinger und sein Verlag Königshausen & Neumann beschreiben in dem moderat sperrigen Titel „Hure Babylon. Großstadtsymphonie oder Angriff auf die Landschaft? Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz und die Großstadt Berlin: eine Annäherung aus kulturgeschichtlicher Perspektive“ Thema und Methode des vorliegenden Untersuchungsbandes ausführlich. Der umständliche Titel lässt auf den ersten Blick ahnen, dass es sich um eine populärwissenschaftliche Edition einer Hochschulschrift handelt. Leidingers Dissertation ist in der überarbeiteten Variante in der traditionsreichen Verlagslinie „Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften“ in der Reihe Literaturwissenschaft erschienen.
Der Leser stellt sich angesichts der umfangreichen Forschungsgeschichte zu Döblins Jahrhundertroman „Berlin Alexanderplatz“ die Frage, ob eine weitere Untersuchung zu dem Werk von Nöten, mithin neue Lesarten zu eröffnen im Stande ist. Diese Frage ist mit einem eindeutigen „Ja“ zu beantworten. Nicht nur hinsichtlich der Ambition, der Ambivalenz und Geltung des Gegenstandes, sondern – und das ist ein wesentlicher Verdienst Armin Leidingers – gerade in Anbetracht der Kanonisierung bestimmter Aspekte der Forschungstradition. In der Literaturwissenschaft hat sich zu „Berlin Alexanderplatz“, bei aller Unterschiedlichkeit in Wertung und Lektürerichtung des Romans, eine Reihe kaum hinterfragter Wissenschafts(vor)urteile herausgebildet, die munter tradiert werden. Leidinger widerspricht dem gängigen Kanon in der Argumentation überzeugend und gefällt durch pointierte und fleißige Quellenarbeit.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage nach der Positionierung des Döblinschen Epos zur Großstadt Berlin. In der Literaturwissenschaft hat sich ein Mainstream bis in gängige Fachlexika hinein herausgebildet, der den Roman im Blick auf Urbanität als äußerst kritisch liest. Diesen Bestand stellt Leidinger auf die Probe, indem er kulturgeschichtliche Methoden zu Rate zieht, um der Gefahr einer unhinterfragten ahistorischen Immanenz der Lektüre zu entgehen. Mit Landwehrs Methode der ‚Historischen Diskursanalyse’ rekonstruiert er die historische Debatte um die Großstadt Berlin in der Weimarer Republik und bezieht die zeitgenössischen Argumentationsfiguren auf die Romanlektüre.
Dieses Vorgehen zeitigt überraschende Befunde, die Leidinger überzeugend ergänzt durch ausführliche Analysen der Rezeptionsgeschichte von „Berlin Alexanderplatz“ in der ersten deutschen Republik. Entgegen der heuer vorherrschenden Meinung wurde Döblins Roman durchaus nicht vorrangig als großstadtkritisch gelesen und durch das kulturkonservative Milieu als Exponent großstädtischer Literatur unter dem Paradigma der ‚Neuen Sachlichkeit’ sogar stark angefeindet. Leidinger zeigt anhand der naturphilosophischen und sozialtheoretischen Schriften Döblins utopistisches Bild der urbanen Gesellschaft und bezieht die Poetik des Schriftstellers ein, um über die Sekundärliteratur neue Lektürewege zu eröffnen.
Den derart gewonnenen umfangreichen und akribisch aufbereiteten Kenntnisstand konfrontiert Armin Leidinger mit einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung des Romans. Sein Vorgehen ist methodisch reflektiert und behutsam in der Durchführung. Er konzentriert sich auf die Analyse charakteristischer ‚Lektüreeinheiten’ und Wortfelder und widmet naturgemäß den Stadtmontagen große Aufmerksamkeit. Über die Analyse der ‚Textstadt’ kommt Leidinger zu einer plausiblen Bewertung des ‚Stadttextes’, die diesen in der kontroversen Kulturdebatte klar verortet und gut begründet vom Forschungsstand in der Literaturwissenschaft abweicht.
Armin Leidinger gelingt es in dieser Untersuchung „Berlin Alexanderplatz“ in den historischen Kontext der Entstehungszeit einzuordnen und als Beitrag zum kulturellen Diskurs lesbar zu machen. Er zeigt neue Literaturperspektiven auf und gelangt zu einer charakteristischen Neubewertung des legendären Epos. Im Ergebnis trägt er überzeugend dargelegt der Ambivalenz des Gegenstandes Rechnung und mobilisiert diese gegen den Forschungskanon. Ein großes Lob gebührt seiner wissenschaftlichen Redlichkeit, die um die Grenzen seiner Methode und theoretischen Angriffspunkte gegen seinen Zugang weiß.
Überdies erfährt der Leser eine ganze Menge Wissenswertes und Hochinteressantes über die Geschichte Berlins und die Kulturkontroverse um die Großstadt zu Zeiten der Weimarer Republik. Die literaturwissenschaftliche Textanalyse bleibt notwendig kursorisch, ist jedoch in der Konfrontation mit außerliterarischen Diskursen stets hervorragend begründet. Gelegentliche Redundanzen in der Argumentation sind im Hinblick auf die in diese Arbeit eingeflossene umfangreiche und interdisziplinäre Forschungsarbeit zu vernachlässigen. Eine wichtige Untersuchung, die gut lesbar aufbereitet ist. Ob man das methodische Vorgehen als statthaft empfindet oder nicht: Armin Leidingers Arbeit ist gut begründet und führt zu plausiblen neuen Erkenntnisse. Für Kenner der Materie dringend zu empfehlen. Selten hat mir die Lektüre einer Forschungsarbeit derart viel Freude bereitet.
Literaturangabe:
LEIDINGER, ARMIN: Hure Babylon. Großstadtsymphonie oder Angriff auf die Landschaft? Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010. 401 S., 49,80 €.
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