Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften bemüht sich seit September 2000 nachhaltig und akribisch um eine Richtigstellung deutscher Geschichtsschreibung. Die bis dahin omnipräsente und überragende kulturhistorische Bewertung des Doppelphänomens Weimar-Jena galt es zu durchbrechen, um einem großstädtischen, selbstredend berlinerischen Komplementärpartner zu rekonstruieren. „Berliner Klassik“ nennt sich seitdem das Akademievorhaben und untersucht eben jene Periode der deutschen Kultur, die gemeinhin als Klassik verstanden wird, also der Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert.
Das in diesem Buch vorliegende, im „work in progess“ erarbeitete, virtuelle Stadtbild Berlins des Autors Matthias Hahn bereichert die historische Geographie und Soziologie der alten und neuen Hauptstadt und reüssiert nicht nur Stadtkarten, Gemälde oder Zeichnungen, sondern liefert zudem interessante, interdisziplinär veranlagte Ansichten der damals aufstrebenden und mächtigsten Metropole des deutschen Reiches. Mit dem Projekt des virtuellen Stadtplans ist die konkrete Absicht verbunden, so der Autor, neue Wege der Stadtgeschichtsforschung zu beschreiten, die vor allen Dingen dem Begriff „Raum“, wie er in den letzten Jahren von der angelsächsischen Forschung platziert worden ist, Rechnung tragen soll.
„Raum“ ist hier also mehr als die messbare Länge und Größe eines definierten Ortes, sondern beinhaltet auch soziologische, psychologische oder mentalitätsgeschichtliche „Räume“, in denen die Akteure wandelten und wirkten. Wenn sich das bis hierhin alles sehr wissenschaftlich und normalsterblich fremd anhört, ist das kein Wunder, denn die moderne Geisteswissenschaft bringt eben jene Attribute mit sich und ist somit häufig nur für die entsprechende Rezipientenklientel zugänglich und in dem Maße auch verträglich.
In diesem Fall jedoch darf und sollte auch der Berlininteressierte und Laienhistoriker einen neugierigen Blick riskieren, zu sympathisch und erfreulich unkompliziert ist Aufmachung, Gestaltung und Kontextualisierung gelungen. Man nehme, alphabetisch geordnet, die wichtigsten Plätze, Straßen, Häuser, Brücken und Institutionen, versehe sie mit den grundlegenden Informationen wie Entstehungszeitraum, Lage innerhalb der Stadt plus visueller Kartographie, Entwicklung nach 1800 und selektiven Zeichnungen oder Bildern und herauskommt ein profundes und reichhaltiges Sammelsurium Berliner „Räume“. Die Geschichte und deren Bedeutung des jeweiligen Ortes um 1800 stehen in dem beigefügten Quelltext natürlich ganz oben an.
Alexanderplatz, Botanischer Garten, Friedrichsbrunnen, Lustgarten, Nationaltheater, Schloss Bellevue oder Tiergarten, als bis heute zumindest bekannte Orte, sind ebenso vertreten wie späterhin zerstörte oder vergessene „Räume“, wie das Landhaus Iffland, die Ofenfabrik der Herrn Höhler und Feilner oder das Welpersche Badehaus. Gespickt mit zahlreichen zeitlichen Originalzitaten ist es den Lesern möglich, sich an den entsprechenden Ort heranzuschleichen, dort zu verweilen und die entsprechende historische Dimension selbst nachzuvollziehen.
Dem Autor gelingt es also, nicht nur im Dienste seiner Akademie, sondern vor allen Dingen für den interessierten Endverbraucher einen gut zweihundert Jahre alten Stadtplan mit den wichtigsten Orten zu erstellen und diese so detailgetreu wie möglich zu präsentieren. Das ist Nachschlagewerk, Kompendium und Schmökerkiste in einem, genügt nicht nur ob der zahlreichen Quellen- und Literaturlisten und einem Personen- und Sachregister ganz ausgezeichnet und erfüllt jene Forderung, der Historiker oberste Priorität beimessen: Einer nüchternen, annähernd lückenlosen und dennoch interessanten Nachberichterstattung.
Von Marco Gerhards
Literaturangabe:
HAHN, MATTHIAS: Schauplatz der Moderne. Berlin um 1800 — ein topographischer Wegweiser. Aus der Reihe Berliner Klassik 16. Wehrhahn Verlag, Hannover 2009. 554 S., mit 106 Abb., 39,80 €.
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