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Besuch in der Sperrzone

Eine Geschichte vom Erwachsenwerden mit Tschernobyl

© Die Berliner Literaturkritik, 22.03.11

FRANKFURT / MAIN (BLK) – Im Januar 2011 ist im Eichborn Verlag „Tschernobyl Baby“ von Merle Hilbk erschienen. Die Journalistin schildert darin ihre Reise durch die Tschernobyl-Region.

Klappentext: Ein Vierteljahrhundert ist sie her, die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl, und noch immer ist hierzulande die Angst vor der atomaren Verstrahlung präsent – viel präsenter als in den Dörfern in der Sperrzone, die Merle Hilbk besucht. 1986 war für sie das Jahr, das sie zu einem politischen Menschen machte, und seitdem will sie wissen, was es mit dem Mysterium Tschernobyl auf sich hat. 2009 und 2010 reist sie mehrere Monate durch die verstrahlten Gebiete in Weißrussland und der Ukraine, bis hin zum Reaktor, spricht mit Frauen in kleinen Dörfern, deren Männer zu müde und zu kraftlos sind, um zu arbeiten – Folgen der Verstrahlung. Sie fährt durch die Sperrzone, die der weißrussische Präsident wieder besiedeln will, um die Vergreisung der Bevölkerung zu stoppen. Und sie wird dort von Tadschiken zum Schaschlyki eingeladen, die froh sind, dass sie wieder ein Dach überm Kopf haben – auch wenn es in der Sperrzone liegt. Immer mit dabei ist Mascha, ihre 1986 in der Nähe von Tschernobyl geborene weißrussische Freundin. Sie gehört zur Generation der Tschernobyl-Babys, die in den 90er Jahren zu Erholungsaufenthalten in deutschen Gastfamilien waren und die ihren ganz eigenen Blick auf die große Katastrophe haben ...

Merle Hilbk, Jahrgang 1969, ist nach Redaktionstätigkeit bei Spiegel und Zeit als freie Journalistin in Russland und Osteuropa tätig. Als Journalismusdozentin lebte sie unter anderem in Baku und Ulan-Ude, 2009 wohnte sie für mehrere Monate im Bezirk Gomel, dem von der Tschernobyl-Havarie am stärksten betroffenen Bezirk Weißrusslands. 2006 erschien ihr erstes Buch „Sibirski Punk“, 2008 „Die Chaussee der Enthusiasten - Eine Reise durch das russische Deutschland“.

Leseprobe:

©Eichborn©

Pripjat ist tot seit dem 28. April 1986, dem Tag, an dem seine 48 000 Einwohner evakuiert wurden. An dem es auf einen Schlag entvölkert wurde, 16 Jahre nach seiner Gründung, 36 Stunden nach der Havarie des Reaktors Nummer 4 – viel zu spät für die Gesundheit der Menschen.

Im Moskauer ZK hatte man sich damals nicht so schnell über das Vorgehen einig werden können. ZK-Mitglieder fragten sich vor allem, wie man verhindern könne, dass im Westen bekannt wurde, was geschehen war. Beim ersten großen sowjetischen Störfall, 1957 im Kraftwerk Majak, hatte man mit Erfolg eine Informationssperre verhängt: 30 Jahre lang erfuhr weder die Bevölkerung der Region Tscheljabinsk noch die Journaille von dem GAU. Eine Massenevakuierung in Pripjat würde in jedem Fall für Aufmerksamkeit sorgen. Deshalb zögerte wohl auch der damalige Generalsekretär des ZK Michail Gorbatschow, der mit seinem Programm „Glasnost und Perestroika“ („Öffnung und Umbau“) gerade erst populär geworden war, das Kommando zur Räumung zu erteilen.

So ging nach dem Unfall das Leben in der nur vier Kilometer vom Reaktor entfernten Stadt erst einmal weiter, als wäre nichts geschehen: Frauen kauften auf dem Markt ein, Kinder spielten Fußball auf den Brachflächen zwischen den Plattenbauten, fünf Hochzeitsgesellschaften drängten sich vor dem Standesamt – das letzte Aprilwochenende war ein beliebter Termin zum Heiraten, und das Wetter heiß wie im Sommer.

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Zwar kursierte das Gerücht in der Stadt, es habe einen Brand im Kraftwerk gegeben, und Arbeiter, die in der Nacht vom 26. April die Schicht im Reaktor 4 gefahren hatten, erzählten zu Hause von einem Unglu¨ck. Aber die meisten Pripjater sagten sich: Wenn die da oben nicht reagieren, wird es schon nicht so schlimm sein. Dann, ganz plötzlich, patrouillierten Lautsprecherwagen durch die Straßen und ordneten die Evakuierung der Stadt an: „Wnimanije, wnimanije! Begeben Sie sich unverzüglich zum Marktplatz! Dort stehen Fahrzeuge für Sie bereit!“ Auf dem Marktplatz standen Soldaten mit Gasmasken, die die verstörten Pripjater auf Lastwagen, Privatautos, Reise- und Linienbusse verteilten, die man aus Kiew herbeigeordert hatte – und die dafür sorgten, dass niemand mit Gepäck reiste. Schließlich sei die Evakuierung ja nur vorübergehend. In einer langen Schlange verließen die Fahrzeuge die Stadt und holperten über die Überlandstraße nach Kiew. Ein geordneter Abzug, und ein stiller. Keine Proteste, keine Panik. Nur ein paar Autopannen unterwegs. So oft habe ich diese Szenen auf YouTube gesehen, Szenen in ein paar Dutzend Videos aus der „modernsten Stadt der ukrainischen Unionsrepublik“, dass ich das Gefühl habe, selbst dabei gewesen zu sein. Die Kurzfilme pendelten zwischen euphorischer Aufbruchsstimmung und Endzeitsymbolik – eine Mischung, die die Aura der Sowjetunion kurz vor dem Fall atmete. „Die Videos? Die hat so ein Freak gebastelt, der beim Komsomol gearbeitet hat“, sagt der Gamedesigner, während er den Polo über die Brücke am Eingang von Pripjat lenkt. „Der ist auch vorher schon immer mit der Kamera durch die Gegend gelaufen. Wie? … Ja, der lebt noch. Von seinen Bildern … Ja, die besten Abnehmer sitzen im Westen. Du kannst ihn später anrufen, die Jungs von ›Pripyat.com‹ haben seine Handynummer.“ Wir nähern uns einer roten Ampel. Wer ist auf die Idee gekommen, am Eingang einer Geisterstadt eine Ampel aufzustellen? Dahinter erstreckt sich eine Metallwand, dahinter wiederum eine zweite, dazu Scheinwerfer, Stacheldraht, ein Wachhäuschen, in dem ein grimmiger Soldat sitzt – eine Szenerie wie im Gazastreifen. Noch einmal werden unsere Papiere kontrolliert. „Herkunftsland?“, fragt der Soldat. „Besuchszweck? Route? Aufenthaltsdauer?“ „Internationalisten auf der Reise in die Vergangenheit.“ Sergej kann sich solche Bemerkungen erlauben, er ist hier bekannt, ein Teil des Zonen-Apparates. „Die gepflasterten Wege nicht verlassen!“, mahnt der Soldat. „Die sind dekontaminiert. Der Rest ist unberechenbar. Keine Alleingänge, sagen Sie das den Ausländern!“

Das Wachhäuschen steht bereits auf strahlendem Terrain, der Geigerzähler piepst hektisch, bis auf zwei Millisievert Cäsium pro Stunde klettert die Digitalanzeige. 48 Stunden dauert die Schicht des Wachsoldaten, inklusive Übernachtung am Rand der Geisterstadt. Was könnte es Gruseligeres geben? „Der Job ist beliebt“, sagt Sergej. „Man hat viel Freizeit und kann früh in Rente.“ Mit einem Ächzen tut sich die Metallwand auf. Der Spalt zwischen den Schiebetoren wird breiter und breiter. Wir fahren hindurch, auf die andere Seite, und dann liegt Pripjat vor uns. Überall stehen Bäume, Birken, Erlen, Weiden, dahinter versteckt die Gebäude. Schnurgerade zieht sich die Leninallee, die einst ein breiter Boulevard war, durch diesen Dschungel. Heute ist sie eine schmale Piste mit rissigem Asphalt, die halb überwachsen ist mit struppigen Gräsern. Bäume haben sich selbst in den Gebäuden eingenistet, ihre Wurzeln durch den Fußboden gedrückt, das Geäst durch die Decken. Hagebuttensträucher ranken sich an den Mauern entlang, bilden flammendrote Flächen auf dem grauen Stein. Der Wald, der hier einst gefällt wurde, um Platz für die Stadt zu schaffen, hat sich sein Terrain zurückerobert. Der Polo hält vor einem lang gestreckten, zweistöckigen Gebäude, dem „Kulturpalast Energetik“, der ehemals eine Glasfront besessen haben muss. Jetzt kann man in das Innere hineinsehen, bis in die verwüstete Lobby, die zertrampelten Veranstaltungssäle, die Büros. Bevor er aussteigt, streift der Gamedesigner ein Paar weiße Handschuhe über, wie sie die Spurensicherung in den Fernsehkrimis trägt. „Wofür die Handschuhe?“, frage ich. „Vielleicht, damit man sich nicht in der Nase bohrt, nachdem man so eine Cäsiumbombe angefasst hat.“ Er deutet auf ein Büschel Beifuß und legt den Geigerzähler an: 6,4 Millisievert pro Stunde, mehr als am Reaktor. Als Erstes will uns Sergej einen Überblick über die Stadt verschaffen, vom höchsten erreichbaren Punkt, der Dachterrasse des Hotels Polessje.

Über zerborstene Stiegen klettern wir bis in den achten Stock hinauf, öffnen eine Metalltür, treten ins Freie. Unter uns liegt die Stadt in der Sommerhitze, reduziert auf ihre Geometrie. Wie Bauklötze sind die Plattenbauten in der flachen Landschaft verteilt, Rechtecke und Würfel, die jemand einfach dorthin gekippt hat, zwischen Straßen, die strahlenförmig von einem riesigen betonierten Platz abzweigen, groß genug für den Aufmarsch einer ganzen Armee. Es ist schwer, sich diesen Ort belebt vorzustellen. Unmöglich. Hinter den Häusern schält sich eine Silhouette aus dem Dunst: ein paar Gebäude mit Satteldach, ein schlanker Turm: das Kraftwerk. „Früher haben die Ingenieure von hier oben ihren Gästen stolz gezeigt, wo sie arbeiten“, erzählt Sergej. „Ein Job in Pripjat – das war ein Privileg. Im ganzen Land wurden die Leute um ihren Lebensstandard beneidet. Weg wollte hier keiner – im Gegenteil. Jeder wäre gekommen, dem man das Angebot gemacht hätte!“

©Eichborn©

Literaturangabe:

HILBK, MERLE: Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011. 280 S., 17,95 €.

Weblink:

Eichborn


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