HESSEL, FRANZ: Spazieren in Berlin. Neu herausgegeben von Moritz Reininghaus. Verlag für Berlin-Brandenburg. Berlin 2011. 240 S., 19,90 €.
Von Behrang Samsami
„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“
Der Ich-Erzähler dieser Zeilen trotzt den misstrauischen Blicken seiner Mitbürger, auch wenn der „Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers“, den er sich selbst zuschreibt, die anderen in seiner Umgebung enerviert. „Sie merken, daß bei mir nichts ‚dahinter!' steckt. Nein, es steckt nichts dahinter. Ich möchte beim Ersten Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden.“
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Der „Erste Blick“, von dem Franz Hessel (1880-1941) in seinem erstmals 1929 veröffentlichten Buch „Spazieren in Berlin“ spricht, ist der unvoreingenommene, staunende und einfühlsame Blick. Es ist der des Kindes und flanierenden Beobachters. Beide vereint der in Stettin geborene, jedoch in der damaligen Reichshauptstadt aufgewachsene deutsch-jüdische Schriftsteller in seinem „Bilderbuch in Worten“, das vor kurzem wiederaufgelegt worden ist.
Es handelt sich hierbei, um den Untertitel der Erstausgabe zu zitieren, um ein „Lehrbuch der Kunst, in Berlin spazieren zu gehen. Ganz nah dem Zauber der Stadt, von dem sie selbst kaum weiß.“ Nacheinander durchfährt und -wandert der Ich-Erzähler alle Bezirke der Hauptstadt, besucht die unterschiedlichsten Orte – Fabriken und Verlage, Museen und Märkte, Restaurants und Theater –, und beobachtet neugierig die dort wohnenden und arbeitenden Menschen – Arbeiter und Angestellte, Schausteller und Museumsführer, Buchhändler und Marktschreier.
Seite für Seite entwirft er dabei eine Momentaufnahme der deutschen Hauptstadt in den „Goldenen Zwanzigern“. In einigen Passagen wirkt das Buch indes sehr aktuell, denkt man an die vielen Neugestaltungen, die das Gesicht der Metropole damals prägten und die auch heute laufend für Veränderungen in Berlin sorgen.
Der Ich-Erzähler unternimmt mit seinen Fahrten und Spaziergängen aber auch eine zweifache Reise in die Vergangenheit. Zum einen besucht er die Gegend, in der er als Kind gelebt hat, und erzählt nostalgisch von den Moden und Trends, die in seiner Jugendzeit vorherrschten. Zum anderen findet er öfter Gelegenheit, etwa wenn er auf Schlösser oder Museen stößt, von der Historie der Stadt zu erzählen.
Auf diese Weise wird „Spazieren in Berlin“ zu einer Stadtchronik, die gleichzeitig auch die Literatur über Berlin thematisiert. Hessel erwähnt und zitiert zwischendurch immer wieder Schriftstellerkollegen wie Theodor Fontane, die in der Vergangenheit ebenfalls in Berlin spazieren gegangen sind und über ihre Stadt und Zeit geschrieben haben.
Der Ton, der zuweilen in dem Buch angeschlagen wird, ist nicht selten zugleich ironisch und melancholisch. Der Flaneur lässt durchscheinen, dass er sich für die Stadt mehr Liebe und Fürsorge seitens ihrer Bewohner wünscht, dass sie im Grunde mehr aus Berlin machen, ihr mehr Flair verleihen könnten. Zum Vergleich zieht er Paris heran, wo der Autor in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gelebt hat.
„Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“ Franz Hessels Ausspruch aus dem Anfangskapitel mit dem bezeichnenden Titel „Der Verdächtige“ macht deutlich, was er sich nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Leidenschaft für Berlin von seinen Mitmenschen erhofft: Die Fähigkeit, durch das (ziellose) Flanieren sich selbst und ihrer Umwelt mehr Zeit und Aufmerksamkeit zu gönnen – und so intensiver zu (er)leben.
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