MÜNCHEN (BLK) – Andrew Delbancos Melville Biografie ist im September 2007 im Carl Hanser Verlag erschienen.
Klappentext: Endlich erscheint die große Biografie Melvilles, eines der bedeutendsten Schriftsteller der frühen Moderne. Sein „Moby Dick“ wurde zum Mythos, sein Leben als gescheiterter Schriftsteller und Zollbeamter im New Yorker Hafen zur Legende. Andrew Delbanco zeichnet Melvilles Leben nach, erläutert sein Werk und entwirft dabei ein grandioses Panorama Amerikas im 19. Jahrhundert. Nie ist so genau gezeigt worden, aus welchen Umständen das so unvergleichliche, revolutionäre Werk Melvilles entstanden ist.
Leseprobe:
© Carl Hanser Verlag ©
Einführung
Warum über das Leben eines Schriftstellers schreiben? Für mich hat die Begründung damit zu tun, dass unser aller Leben einer undurchschaubaren Kombination von freiem Willen und Schicksal unterworfen ist. Das Bewusstsein von dieser Tatsache wächst mit zunehmendem Alter, und daher bietet es einen gewissen Trost, sich mit jemandem zu beschäftigen, der es verstanden hat, der Widerspenstigkeit und Flüchtigkeit des Lebens etwas Schönes und Dauerhaftes abzugewinnen.
Versucht man diese Überlegung auf Herman Melville zur Anwendung zu bringen, stößt man freilich auf ein Problem. Wie er von der Titelfigur seiner beklemmenden Erzählung „Bartleby der Schreiber“ sagt, der auf Mitgefühl wie auf äußere Gewalt mit gleichermaßen unerträglichem Schweigen reagiert, gibt es „kein Material für eine vollständige und befriedigende Biographie dieses Mannes“. Nur etwa dreihundert Briefe Melvilles, viele davon eher nichts sagend, haben überlebt, während zum Beispiel von Henry James zwölftausend Briefe vorhanden sind. Was Briefe an ihn betrifft, hatte er die „üble Angewohnheit“ (wie er selbst es nannte), sie zu vernichten, und die meisten seiner Manuskripte, 1863 beim Auszug aus seinem Haus in Berkshire zurückgelassen, gingen vermutlich in Flammen auf, als die neuen Hausbesitzer den alten Hausrat verbrannten. Seine Tagebücher waren weder zahlreich noch ausführlich, und da ihm zu Lebzeiten nur ein kurzlebiger Ruhm beschieden war, folgte ihm kein Boswell in die Tavernen, um seine Tischgespräche aufzuzeichnen.
Ein Biograf, sagt Henry James, habe sich um „Details“ zu kümmern, und somit ist jede konventionelle Melville-Biographie zum Scheitern verurteilt. Die Ereignisse seines Alltagslebens – seine Liebeleien und Streitigkeiten, seine Scherze und Tiraden im Familienkreis –, all das lässt sich nicht einmal mehr ansatzweise ermitteln, und an den meisten Versuchen, sein Leben zu erzählen, bemerkt man denn auch die Diskrepanz zwischen der Lebendigkeit dessen, was er selbst schrieb, und der Verschwommenheit der Gestalt, die in Texten über ihn zutage tritt. Trotz der enormen Zunahme seines Ansehens ist seine Figur noch heute so schemenhaft, dass man, als vor einigen Jahren eine Photographie entdeckt wurde, die einen Mann mit Vollbart und Zylinder an einem von Melville wahrscheinlich besuchten Pier auf Staten Island zeigt, in große Aufregung geriet, es könnte sich dabei um ihn handeln, auch wenn auf dem Photo nicht viel mehr als eine konturlose Silhouette zu sehen ist.
Nur einigen Freunden und Verwandten, die ihn gelegentlich in ihren Briefen erwähnen, ist es zu verdanken, dass dieser „sagenhafte Schatten“, wie Hart Crane ihn nannte, ein wenig deutlicher wird. Wir sehen ihn mit seinem Bruder in einem Manhattaner Steakhouse essen, bei Schneesturm in Berkshire Schlitten fahren, seiner Enkelin im Madison Square Park die Tulpen zeigen und dann, nachdem er eine Weile auf einer Bank gesessen hat, allein nach Hause zurückgehen, weil er die Kleine ganz vergessen hat. Aber diese schwachen Spuren führen allenfalls an den Rand seines Innenlebens. Als er ohne das Kind den Park verließ – war dies einem angenehmen Tagtraum oder der Verwirrtheit eines alten Mannes zuzuschreiben? Oder kann es sein, dass sich die Sache gar nicht zugetragen hat?
Diese Frage ist unmöglich zu beantworten, und früher oder später stellt sich die Frage, ob man es überhaupt versuchen sollte. Melville hat einmal geschrieben, „im persönlichen Gespräch hat noch kein Autor jemals der Vorstellung seines Lesers entsprochen“, und da Biographie doch eine Art Gespräch sein sollte, birgt diese Bemerkung eine Ermahnung, ihn in seiner Selbstverborgenheit zu lassen. Schließlich schrieb er mit besonderer Sympathie über „Isolatos“, die sich vor der lärmenden Welt abschotten und allein mit ihren Dämonen und Träumen leben – wenn er etwa in Moby-Dick schildert, wie der kolossale Vater Mapple vermittels einer Strickleiter seine Kanzel besteigt, sich dann oben hinauslehnt und „die Leiter bedächtig Stufe für Stufe heraufholte, bis alles darinnen verstaut und er in seinem kleinen Quebec unangreifbar war.“. Auch Melville zog sich gern zurück, vor allem im Alter, als er manchmal sogar das Schlüsselloch seines Arbeitszimmers mit einem Handtuch verhängte, damit niemand zu ihm hineinspähen konnte. Er hat dafür gesorgt, dass der Mann, von dem wir in geschichtlichen Aufzeichnungen kaum einen Blick erhaschen, nie mit dem Genie in Deckung zu bringen sein wird, das wir in seinen Werken antreffen.
Vor einigen Jahren hatte ich ein Erlebnis, das meinen Entschluss, in sein postumes Privatleben einzudringen, sehr ins Wanken brachte. Ich saß im Lesesaal der Houghton Library und hielt den Brief eines früheren Schiffskameraden von Melville in der Hand, in dem er schrieb, er habe seinen Sohn nach ihm benannt und ob er ihn nicht einmal besuchen oder ein Andenken schicken wolle. Indem ich diesen Brief betrachtete, den Melville selbst einmal in überraschter Vorfreude aus einem Umschlag mit dem Namen eines Freundes gezogen hatte, von dem er seit Jahren nichts mehr gehört hatte, kam ich mir vor wie ein Lauscher, wie ein Tourist in einer Kirche, der einen der dort Betenden belauert.
Bei dem Versuch, ein angemessenes Verhältnis zu der Gestalt zu finden, die man „Melville das Problem“ nennen könnte (seinen berühmten Freund Nathaniel Hawthorne hat er einmal mit einem kleinen dunklen „Bändchen in Fraktur und mit goldenen Schlössern, mit dem Titel: ‚Hawthorne: Ein Problem’“ verglichen), war ich auf die biographischen Forschungen zahlreicher Gelehrter angewiesen, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Mein eigenes Hauptziel jedoch war es nicht, den Vorrat an Fakten über Melvilles Leben zu vergrößern: und wenngleich ich hoffe, dass mir dies hier und da doch gelungen ist, geht es mir vornehmlich um seine Schriften und deren komplexen Zusammenhang mit dem intellektuellen und politischen Kontext, in dem er gelebt und gearbeitet hat. In diesem Buch findet sich daher viel Historisches über die Vereinigten Staaten zu seinen Lebzeiten. Ich hoffe, der Leser gewinnt dadurch, was Hawthorne ein „Heimatgefühl mit der Vergangenheit“ genannt hat – mit der Vergangenheit, versteht sich, die Melville als Gegenwart erlebte. Schließlich nehme ich D.H. Lawrences Bemerkung ernst, wonach Melville „aus einer Art Traum-Ich heraus geschrieben hat, so dass Ereignisse, die er als Tatsachen schildert, in Wahrheit einen sehr tiefgehenden Bezug zu seiner eigenen Seele haben, zu seinem Innenleben“. Da der Weg in dieses Innenleben nur über seine eigenen Worte führen kann, wird in diesem Buch vor allem anderen der Versuch unternommen, jenen jungfräulichen Augenblick zu rekonstruieren, als es – lange bevor wir etwas darüber wussten, ob Melville ein freundlicher oder ein grober Ehemann war, ein Gegner oder ein Befürworter dieser oder jener Idee – seine Worte waren, die uns ergriffen und verblüfften. Der Kritiker Richard Poirier erinnert uns daran, was passieren kann, wenn wir uns von den Worten entfernen:
Ohne den Text in der Hand, neigen die meisten von uns dazu, über ungenau erinnerte Szenen und Figuren oder Redewendungen einfach munter drauflos zu schwatzen … wenn wir uns an den guten alten Proust erinnern, unterscheidet er sich nicht sonderlich vom guten alten Tolstoi, auch wenn wir die beiden, als wir sie ursprünglich aus ihren Schriften kennen lernten, ganz und gar nicht miteinander hätten verwechseln können.
Jeder Melville-Leser weiß, was Emerson meinte, als er in sein Tagebuch schrieb, dass er bei der Shakespeare-Lektüre seine „Augen schirmen muss“. Ich hoffe für dieses Buch, dass es zum einen Melvilles Zeit lebendig werden lässt, zum anderen aber auch eine Ahnung davon vermittelt, warum der strahlende Glanz seines Genies unvermindert bis in unsere Zeit hinein leuchtet.
Andrew Delbanco
<ST1:CITY W:ST="on"><ST1:PLACE W:ST="on">New York City</ST1:PLACE></ST1:CITY>, Mai 2005
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Literaturangaben:
DELBANCO, ANDREW: Melville. Biografie. Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München 2007. 472 S., 34,90 €.
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