Von Rudolf Grimm
Stefan George war im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts eine der markantesten Erscheinungen in der deutschen Literatur. Seine Präsenz in der geistigen Welt beruhte vor allem auf seiner charismatischen Persönlichkeit und seiner intellektuellen Prägekraft. Mehr als auf seinem kunstvoll gestalteten, aber vom großen Lesepublikum als schwierig und abweisend empfundenen dichterischen Werk. Um ihn bildete sich von jungen Jahren an ein einzigartiger Kreis von Freunden und Verehrern, unter ihnen bedeutende Persönlichkeiten.
Wie nach seinem Tod am 4. Dezember 1933 im Alter von 65 Jahren dieser Kreis allmählich zerfiel, doch der „Meister“ ein mannigfaltiges Nachleben hatte, beschreibt Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, in seinem neuen Buch „Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben“. Es schildert, wie Menschen, die George nahestanden, weiter in seinem Geist zu leben und zu wirken versuchten. Ebenso die Konflikte unter ihnen in der Deutung seiner Botschaft. Darin wird sowohl Persönliches wie auch der Geist der Zeit sichtbar. Erzählt wird eine bis zu Georges 100. Geburtstag reichende bewegte, vielsagende Geschichte.
Schon vor dem Tod Georges hatte der Beginn der NS-Herrschaft in Deutschland Auswirkung auf seinen Kreis, wenn auch nur äußerlich, nicht substanziell. Einer seiner ältesten Freunde, der Jude Karl Wolfskehl, emigrierte schon Anfang 1933. Er hatte 1910 als erster von einem durch Georges Dichtung geweckten „Geheimen Deutschland“ gesprochen – „das einzig lebendige in dieser Zeit“. 1934 emigriert auch der renommierte Historiker Ernst Kantorowicz, ebenfalls Jude. Seine letzte Vorlesung an der Universität Frankfurt war über „Das geheime Deutschland“. Sie ist so etwas wie eine Auslegung von Georges Werk und ein Dokument des Widerstands aus dessen Geist.
Viele im Kreis sympathisieren auch mit dem neuen Deutschland. Kantorowicz' enger Freund Woldemar von Uxkull-Gyllenband identifiziert in einem Vortrag Georges „Das Neue Reich“, Titel dessen letzten Gedichtbands, mit dem neuen „Dritten Reich“ - zumindest in einer Perspektive der Erwartung. Kantorowicz brauchte Monate, um sich von diesem Schock zu erholen. Auch Claus von Stauffenberg, für den George von 1923 an Leitgestalt wurde, ist begeistert vom neuen Staat. Ebenso Frank Mehnert, der in Georges drei letzten Lebensjahren dessen ständiger Begleiter war. George selbst wird damals außerhalb des Kreises als ein NS-Wegbereiter gesehen, was andererseits mit Hinweis auf die Substanz seines Werks und auch seine vielen jüdischen Freunde bestritten wird.
Im Kontext seines Nachlebens bei den Freunden zeigt sich, dass die Botschaft des „Meisters“ insgesamt unterschiedlich interpretiert werden kann. Sie erscheint zum Teil auch missverständlich, fordert zu Streit heraus. Hier einige Beispiele von Versuchen, unter den veränderten Umständen und jenseits der Deutungskontroversen Georges Erbe zu dienen, es in seinem Geist zu praktizieren: Mehnert gründet Mitte der dreißiger Jahre mit dem Germanisten Rudolf Fahrner und Gemma Wolters, junge Witwe von Friedrich Wolters, Historiker im George-Kreis, den Delfin-Verlag, der dann Texte von Freunden Georges publiziert. In einem Berliner Atelier treffen sich der Bildhauer Ludwig Thormaehlen und Mehnert mit Claus und Berthold von Stauffenberg zu Lesungen und Literaturgesprächen. In Überlingen am Bodensee bilden Fahrner, Gemma Wolters, eine Goldschmiedekünstlerin, und andere eine besonders vitale Gemeinschaft, die ebenfalls Lesen und Leben in der Dichtung mit Werkstattarbeit verbindet. Von Raulff nicht erwähnt: Fahrner will von 1941 bis 1944 auch als Präsident des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Athen ein Vertreter georgischen Geistes sein - wenn auch unausgesprochen.
Auch im Exil zeigen sich George-Freunde weiterhin mit dem „Meister“ verbunden. Unter ihnen ist der preußische Jurist Ernst Morwitz, der 1949 in den USA eine Übersetzung von dessen dichterischem Werk ins Englische veröffentlicht. 1951 erscheint in Amsterdam das erste Heft der von Emigranten gegründeten Zeitschrift „Castrum Peregrini“ (Pilgerburg), die wichtige Nachlässe, Briefwechsel, Erinnerungen, Dokumente publiziert.
Langfristig ist die Erinnerung an George verblasst. Sie wurde lebendig erhalten vor allem durch Zeitgenossen seiner prägnanten Persönlichkeit. In literaturgeschichtlicher Sicht lohnt immer noch die Beschäftigung mit seinem Werk. Es enthält außer vielem Sperrigen auch Interessantes und Schönes.
Literaturangabe:
RAULFF, ULRICH: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. Verlag C.H. Beck, München 2009, 544 S., 92 Abb., 29,90 €.
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