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Blut wird fließen

Der Roman „Blutrot“ von Jack Ketchum

© Die Berliner Literaturkritik, 13.11.08

 

MÜNCHEN (BLK) – Im November 2008 ist im Heyne Verlag der Roman „Blutrot“ von Jack Ketchum erschienen.

Klappentext: Er hört die Jungen bereits aus der Ferne. Wie sie hinunterkommen zum Fluss, wo er angelt. Und den Frieden stören. Und er riecht das Waffenöl, zu viel Öl für eine neue Schrotflinte. Es sind reiche Kids, die nichts übrig haben für den Fluss, die Fische und den alten Mann. Und sie begehen einen großen Fehler – sie erschießen den treuen Hund des alten Mannes. Ein Schleier legt sich vor sein Auge, ein roter Schleier. Der alte Mann sieht Blut.

Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Seine Horrorromane zählen in den USA unter Kennern neben den Werken von Stephen King oder Clive Barker zu den absoluten Meisterwerken des Genres, wofür Jack Ketchum mehrere namhafte Auszeichnungen verliehen wurden. (tam/mir)

Leseprobe:

©Heyne©

Der alte Mann sah, wie der Hund ihn beobachtete, wie er seine Hände anstarrte, die den Haken zum orangefarbenen Schwanzende des braunen Plastikwurms schoben. Der alte Hund lag am Flussufer in einem Strahl spätnachmittäglichen Sonnenlichts, das zwischen den Bäumen hindurchfiel. Nach all der Zeit betrachtete der Gute ihn noch immer voller Neugier, und am Spannendsten fand er seine Hände.

Es schien beinahe so, als wären die Fähigkeiten seiner Hände für den Hund das Einzige, was ihn als Geschöpf von seinem Besitzer unterschied, nur die Hände und nichts sonst.

Der alte Mann hörte die Jungen, lange bevor er sie sah, genau wie der Hund. Er wusste, dass sie näher kamen und dass es mindestens zwei waren, die sich auf dem schmalen steinigen Pfad durch den Wald schlugen. Sie kamen von der Lichtung, wo sein Pickup stand. Er und der Hund hatten denselben Weg genommen.

Er hörte, wie ihre Schuhe über Erde und Steine schlurften, hörte das Knacken der Zweige über dem Vogelgezwitscher und dem Plätschern des gemächlich dahinfließenden Wassers. Der Hund stellte die Ohren auf und wandte seinen mächtigen zerzausten Kopf in Richtung der Geräusche, dann schaute er wieder zu dem alten Mann. Da dieser nichts sagte, seufzte er nur und legte sich wieder hin.

Seit der Eisschmelze war der Fluss für den alten Mann überaus ertragreich gewesen. Aber jetzt, im Spätjuni, war es fast schon zu einfach. Er stand erst seit dreißig oder vierzig Minuten am Ufer, nicht länger, und er hatte bereits zwei der drei vom Gesetz zum Fang freigegebenen Fische gefangen, die nun kopflos und ausgenommen in der Kühlbox lagen, beides Vierpfünder.

An dieser Stelle strömte der Fluss breit und tief dahin. Man brauchte sich nur einen Felsen, Baumstumpf oder einen umgestürzten Stamm auszusuchen – irgendetwas, hinter dem sich die Schwarzbarsche gern versteckten – und den Köder auszuwerfen. Dann zog man einige Male ruckartig an der Leine, sodass der Wurm durch das brauntrübe Wasser sauste und nach oben schoss, danach ließ man ihn wieder zum Grund gleiten. Heute reichten bereits drei oder vier solcher Versuche, ehe der Alte das sanfte Zupfen an der Angelleine spürte, das ihm verriet, dass der Fisch angebissen hatte. Wenn es so weit war, ließ er die Rute sinken, damit die Leine schlaff wurde und der Barsch sich den Plastikwurm einverleiben konnte, den der alte Mann vorher mit seinem Speichel als Lockstoff präpariert hatte. Dann holte er die Leine behutsam ein. Wenn er sicher sein konnte, dass sie straff genug war, brachte er den Haken zum Einsatz, indem er die Rute schlagartig nach oben riss, sodass sich der Haken aus der Wurmattrappe löste und das Maul des Fisches durchbohrte.

Auch der nächste Barsch würde ihm erbitterten Widerstand entgegensetzen, aber darauf würde sich der alte Mann nicht einlassen, jedenfalls nicht mehr als nötig, um den Fang einzuholen.

Hier ging es um einen Fisch auf dem Teller und zwei im Gefrierschrank, um weiter nichts. Sein Geschmack an blutigen Sportarten war ihm irgendwann zwischen der Hochzeit seiner Tochter Alice und Marys Tod abhandengekommen.

Aber ihm schmeckte das gute, feste, weiße Fleisch des Barsches. Und dem Hund schmeckte es auch. Obwohl der ja praktisch alles fraß, wie Mary einmal bemerkt hatte. Seit ihrem Tod hatte er festgestellt, dass seine Frau recht behalten sollte, so wie bei den meisten Dingen, über die zu reden sie sich bemüßigt hatte.

Er sah, wie der Hund erneut den Kopf hob und mit der narbenübersäten schwarzen Nase Witterung aufnahm.

Auch der alte Mann roch es, genau genommen sogar noch vor dem Hund. Der war schon lange nicht mehr derselbe wie früher. Der alte Mann konnte immer noch den Welpen in ihm erkennen, so wie in sich selbst den kleinen Jungen. Aber inzwischen waren die Bewegungen des Hundes viel langsamer geworden, was vermutlich an einer beginnenden Arthritis lag. Auch seine Augen wurden immer trüber.

Trotzdem steckte noch genug Leben in ihm, um Emma Siddons schwarzer Promenadenmischung nachzustellen, wann immer diese läufig war. Vor einer Woche erst hatte er ihn auf dem Feld hinterm Haus dabei beobachtet. Lächelnd hatte er zugeschaut, wie der Hund durch die Goldruten stürmte und die Bienen aufschreckte, als stünde er noch voll im Saft.

Trotzdem roch der alte Mann es zuerst. Waffenöl.

Ganz schwach wehte es auf seiner Windseite vom Pfad herüber.

So riechen Amateure, dachte der alte Mann. Ein erfahrener Jäger hätte das Öl viel gründlicher abgewischt als diese Burschen hier. Das Wild würde meilenweit vor ihnen zurückweichen. Selbst wenn sie nicht wie eine lärmende Ziegenherde über den Pfad getrampelt wären.

Er schwenkte die Rute bis über den Kopf zurück und ließ sie dann kraftvoll ins Wasser hinabschnellen. Er spürte das Zischen der Leine, bevor er sie wieder von sich schleuderte, über den Fluss hinweg zu dem halb versunkenen Baum, wo er den ersten Barsch gefangen hatte, den größeren von beiden. Diesmal aber zielte er mit dem Köder auf die andere Baumseite, wo das Wasser tiefer war. Er ließ ihn eintauchen und zog dann ruckartig an der Leine.

Der Hund hob erneut den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah der alte Mann die Neuankömmlinge und wandte sich ihnen halb zu, während sie den Hügel hinunterstolperten. Dann richtete er sein Augenmerk wieder auf die Angelleine und zog erneut daran.

Es waren noch halbe Kinder. Siebzehn, achtzehn Jahre alt vielleicht.

Sie hatten eine Schrotflinte dabei, die sich der größte der drei Jungen über die Schulter gelegt hatte wie einen Stock oder ein Schlagholz, nicht wie eine Feuerwaffe.

Schon was gefangen?“

Der alte Mann drehte sich zu dem Jungen um, der ihn angesprochen hatte. Es war der mit der Schrotflinte. Er war groß und sah gut aus, was er wahrscheinlich auch wusste. Der Junge trug kurze Haare, in der Art, wie sie es dem alten Mann damals beim Militär geschnitten hatten. Er trug Jeans und ein T-Shirt, auf dem STOLEN FROM MABEL’S WHOREHOUSE stand. Darunter prangte die Karikatur einer vollbusigen Frau, die vor einer Art Western-Bar stand.

Im Gegensatz zu den beiden anderen war der Junge schlank und muskulös. Auch sie trugen Jeans und T-Shirts – einer ein rotes, der andere ein ausgeblichenes gelbes, beide mit Taschen für Zigaretten. Ihre Haare waren mittellang und braun, nicht blond und kurz wie die ihres Freundes. Der Junge in Rot hatte einen beträchtlichen Bauch.

„Zwei liegen schon in der Kiste“, sagte der alte Mann. „Seht sie euch ruhig an.“

Der Junge im gelben T-Shirt, der noch den mageren Körper eines Halbwüchsigen hatte, keine Erwachsenenfigur wie der Bursche mit der Schrotflinte, bückte sich und klappte den Deckel der Kühlbox auf. Einen Moment lang betrachtete er die Fische, die Hände tief in den Hosentaschen, sodass seine Schultern spitz unter dem T-Shirt hervorstachen. Dann richtete er sich wieder auf.

Nicht schlecht“, sagte er. „Ordentliche Teile.“

Der alte Mann lächelte. „Im Augenblick kann man sogar Fünfpfünder rausholen.“ Er zupfte an der Leine. „Aber mir reichen die da.“

Der dicke Junge in Rot trat mit den Turnschuhen Kieselsteine und kleine Felsbrocken los. Er wirkte träge, als wüsste er nichts mit sich anzufangen, wie die meisten übergewichtigen Kinder. Ein nur wenige Meter entfernt schwimmender Fisch konnte hören, was an Land geschah. Der alte Mann hoffte, der Junge würde endlich die Füße stillhalten.

„Ihr Hund?“, fragte der Junge mit der Waffe.

Der Alte blickte zu seinem Hund hinab und sah, dass dieser den Jungen ihn auf eine bestimmte Art beobachtete. Mit fortschreitendem Alter wurde der Hund zunehmend reizbar. Man sah es ihm an, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, jemanden nicht zu mögen. Dann starrte er denjenigen unentwegt an und konnte den Blick so lange nicht von ihm wenden, bis dieser ihn vollständig von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt hatte.

Das Problem an ihm war jedoch, dass man sein Vertrauen mit einem Hundekeks erkaufen konnte.

Der alte Mann musste lächeln, als er darüber nachdachte, was für ein schlichtes Gemüt dieser Hund war.

„Ja, er gehört mir. Aber keine Sorge, er beißt nicht.“

Manche Leute waren komisch mit Hunden, dachte er. Immer glaubten sie, ein Hund würde gleich zuschnappen. Dabei hatten nach seinen Erfahrungen verdammt wenige Hunde jemals wirklich zugebissen, außer man hatte sie extrem gereizt, und selbst dann geschah so etwas nur selten. Hunde wollten von den Menschen genau das Gegenteil. Sie wollten gar nicht zubeißen und waren froh, wenn es dafür keinen Grund gab, denn sie wurden gefüttert und hatten es nachts warm, niemand quälte sie, und tagsüber hatten sie viel Zeit, in der Sonne zu liegen, in der Gegend herumzutollen und allen möglichen Dingen hinterherzujagen.

„Hat schon ein paar Jahre auf’m Buckel, was?“, sagte der Junge in Rot.

Der alte Mann nickte. „Wir sind schon seit einer Ewigkeit zusammen.“

Er zog an der Angelleine. Im Moment biss nichts an. Vielleicht verscheuchte das Gerede die Fische, oder es lag an dem dicken Jungen, der mit dem Fuß noch immer Steine aufwirbelte.

„Wie alt ist er denn?“

Er musste überlegen. Mary hatte ihm den Hund zum dreiundfünfzigsten Geburtstag geschenkt, als er gerade sechs oder sieben Wochen alt war. Es war das Jahr vor ihrem Tod gewesen. Sie war 1983 gestorben.

„Dreizehn oder vierzehn.“

Hässlicher alter Köter.“

Darauf wusste der alte Mann nichts zu entgegnen. Aber er wusste, dass der Ton des Jungen ihm nicht gefiel. Der konnte wohl nichts mit Tieren anfangen.

Er begann, die Leine einzuholen.

„Was für Köder verwenden Sie?“ Der magere Junge in Gelb schaute in den Angelkasten.

„Würmer.“

Lebende?“

„Nein, aus Plastik. Ich hab sie irgendwann ausprobiert, seitdem funktionieren sie für mich am besten.“

„Ich mag am liebsten Buzzbaits. Schon mal damit versucht?“

„Nein, hab ich nie benutzt. Manchmal nehme ich Jitterbugs oder Popper, aber meistens diese Plastikwürmer.“

„Mann, hör auf mit dem Gelaber, Harold“, sagte der Junge mit der Schrotflinte. „Und du, Opa, legst jetzt die Angel weg.“

Der alte Mann blickte zu den Jungen hinüber, während diese zwei Schritte auf ihn zutraten.

Die Flinte war jetzt auf ihn gerichtet, sie zeigte auf seinen Bauch. Was zum Henker soll das jetzt?

Der Junge legte den Entsicherungshebel um.

Der Hund knurrte und erhob sich.

„Ruhig“, sagte er zu dem Tier. „Ganz ruhig.“

©Heyne©

Literaturangaben:
KETCHUM, JACK: Blutrot. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Joannis Stefanidis. Heyne Verlag, München 2008. 288 S., 8,95 €.

Verlag


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