Von Leonhard Reul
Die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach meldet sich wieder zu Wort. Seit 1978 ist sie als Autorin des „Anti-Diät-Buch“ dem deutschen Lesepublikum bekannt - immer wieder bringt sie seitdem Bewegung in die Frage der (weiblichen) Leiblichkeit. Diesmal mit einer im Arche Verlag herausgegebenen Analyse zur Frage „Wofür sind Körper da?“. So lautet das sechste Kapitel ihres 200 Seiten starken Buches - und in diesem Kapitel werden die Erkenntnisse der vorangegangen fünf Kapitel knapp zusammengefasst und dem Leser Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Körperdilemma unserer Tage aufgezeigt.
Orbachs Bestandsaufnahme ist ebenso erschreckend wie wahr: Die Zahl der Unzufriedenen im eigenen Körper nimmt stetig zu und lässt sich an verschiedensten (neuen) krankheitswertigen Störungen im Bereich des Körpers messen. Ob es nun Ernährungs-, Sexual- oder Borderline- Probleme sind: Allen Betroffenen liegt ein gestörter Umgang mit ihrem zum Schlachtfeld gewordenen Körper zugrunde. Sie fühlen sich nicht (mehr) in sich heimisch und leiden an ihrer Körperhülle. Dies wird von einigen therapeutischen Schulen als Ausdruck einer generellen Angststörung gedeutet - und könnte somit auch lediglich als ein zur Psyche zurück verweisendes Ausdrucksventil unter vielen andren interpretiert werden. Orbach entschließt sich jedoch zu einer fundamentalen und somit weitergehenden Körperlichkeitsanalyse.
Zunächst verwendet sie einige Seiten darauf, uns die Thesen des britischen Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winnicott nahe zu bringen. Dieser betont den Einfluss der Mutter auf ihr Kind und legt eine Prägungstheorie nahe: Das Baby erfasst intuitiv die körperliche Gestimmtheit seiner Mutter. Nimmt es Spannungen und Verunsicherungen wahr, so wird es in seiner Entwicklung auch einen beeinträchtigten Körperbezug („falsches Selbst“) geben. Weiter betont Orbach die jeweils verschiedenen kulturspezifischen Körperideale, die in den Jahren der Kindheit und Jugend als Datum immer unvermeidlich hinzukommen.
Doch eben jene Körperideale unterliegen nach Orbach einer großen Globalisierungstendenz. Nicht mehr nur die jeweilige Umwelt, also die wahrnehmbaren realen Körper der anderen um uns herum, beeinflusst unser Körperbild, sondern vermehrt dienen virtuelle Welten als Maß. Und dieses Maß birgt Tücken: TV ist nicht Abbildung anderer Wirklichkeiten, sondern oft nur Scheinwelt - der makellos Schönen, der dafür letztlich immer Geschminkten und der in körperlichen (Extrem-)Betätigung oft durch Stuntmen Ersetzten. Im Internet und auch in den altbackenen Printmedien werden wir durchschnittlich 2.000 – 5.000 Mal pro Woche mit digital manipulierten Körperbildern konfrontiert - und leiden, denn so Orbach: „Nicht die Bilder werden als falsch wahrgenommen - jede einzelne Frau fühlt sich falsch.“ Männer auch?
Dieses Nachjagen hinter ein letztlich unerreichbares Schönheitsideal sorgte in den USA 2006 zu einem Umsatz von 100 Milliarden Dollar allein in der Diätindustrie, ganz zu schweigen von der Schönheitschirurgie - ins Bildungsbudget des ganzen Landes flossen zum Vergleich dazu 127 Milliarden. Dies ist in Orbachs Worten Folge des „postmodernen Mythos der Selbsterfindung“, der sich letztlich aus soziokultureller und nun auch virtueller Determination speist. Körper werden als Objekte der Gestaltungsmöglichkeit angesehen - es ist zur Pflicht geworden, sich fortlaufend zu perfektionieren. Der Verweis auf von Industrien absichtsvoll geschaffene visuelle Schein-Kulturen erreicht deren Opfer nicht mehr. Sie sehen nur mehr den Marken (und somit Status-Zugehörigkeit) verkörpernden Körper aus der Werbung, der seinen Siegeszug nun auch in den Schwellenländern und Wachstumsmärkten antritt. Die Unternehmensgewinne werden dort mit den Körperstörungen korrelieren, so Orbach.
Die ihrer gesunden, selbstverständlichen Körperlichkeit Beraubten fliehen oft ins „second life“. Dieser Ausweg ist als weiteres Problem zu erkennen. Zwar ist in diesem virtuellen Raum für die Körperverunsicherten z.B. Sex kein Problem mehr wie in der Wirklichkeit - aber es gilt: „Der Körper kann berühren und berührt werden, aber er kann nicht erreicht werden.“ Und gerade dieses uns selbst Erreichen und uns nahe Sein ist Orbachs Ziel. „Wir müssen die Möglichkeit haben, unsere unterschiedlichen Körper, die wir auf unsere jeweils eigene Weise schmücken und bewegen, als Quell selbstverständlicher Lust und Freude zu erleben.“ Die Ausgangsbedingungen erschweren sich zusehends. Orbach sieht sich als Bewusstsein schaffende Utopistin, die mit Marx und Beauvoir im Gepäck, krank machende absichtsvoll geschaffene Verhältnisse nicht unkommentiert hinzunehmen bereit ist.
Ob ihre Bestandsaufnahme mehr als aufzurütteln vermag, ist fraglich. Nach all den vielen den negativen Status quo illustrierenden Beispielen aus ihrer psychoanalytischen Praxis und den Beobachtungen zum verheerenden Medieneinfluss klingen Orbachs Wünsche auf den letzten Seiten des Buches nur nach einem verlorenen Paradies, aus dem - folgt man ihren Thesen - Tag für Tag mehr Menschen (von Kindesbeinen an) ausgeschlossen bleiben müssten. Trotz dieses unbefriedigenden Endes, gewisser Einseitigkeiten in der durchweg psychoanalytischen Referenzliteratur und nicht immer zwingender Argumentation ist Orbach ein aufrüttelndes Buch über den sich stark verändernden Umgang mit unserer Körperlichkeit gelungen.
Literaturangabe:
ORBACH, SUSIE: Bodies. Schlachtfelder der Schönheit. Übersetzt aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. Arche Verlag, Zürich 2010, 200 S., 17, 90 €.
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