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Boeselager - Ein letzter Zeuge erinnert sich an den 20. Juli 1944

Erinnerungen an Krieg und Widerstand eines Hitler-Attentäters

© Die Berliner Literaturkritik, 23.10.08

 

„Ja, wenn das Schwein tot wäre.“ (Generalfeldmarschall von Kluge am Abend des 20. Juli)

Mehrere der an dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 mittelbar Beteiligten haben – sofern sie den Zweiten Weltkrieg und die Verfolgung überlebten – ihre Memoiren geschrieben. Philipp Freiherr von Boeselager (1917-2008) war dazu nicht bereit. Doch hat er immer wieder Interviews gegeben und Vorträge gehalten. Auch das vorliegende Buch entstand aus „langen Unterhaltungen“, die Jérôme und Florence Fehrenbach mit ihm geführt haben. Florence Fehrenbach ist die Enkelin von Karl von Wendt, eines im Kriege gefallenen Offiziers, der mit Philipps Bruder Georg befreundet war. Philipp von Boeselager konnte die deutsche Übersetzung dieses Anfang des Jahres zuerst in Französisch erschienenen Buches noch bearbeiten und autorisieren.

Boeselager braucht den Lesern der Online-Seiten der „Berliner Literaturkritik“ nicht mehr vorgestellt zu werden (siehe Wilfried Mommerts Besprechung der Biographie von Dorothee von Meding und Hans Sarkowicz am 19. Mai 2008). In einem knappen und sehr guten Nachwort beurteilt Professor Peter Hoffmann, Nestor der deutschen Widerstandsforschung und -geschichtsschreibung, die Erinnerungen Boeselagers als zuverlässig. Boeselager hatte Hoffmann schon in den 1960er Jahren einige Auskünfte für dessen außerordentlich bedeutendes Standardwerk „Widerstand, Staatsstreich, Attentat“ erteilt.

Peter Hoffmann betont, dass Boeselager im Krieg an sich keinen Grund zur Rechtfertigung des Widerstands gesehen hat, anfangs auch nicht in dem Krieg gegen die Sowjetunion. 1942 jedoch wurde Boeselager – auch durch frühere Berichte über Massaker wie das von Borissow – klar, dass die Vernichtungsaktionen „festgelegtes Kriegsziel“ waren. (Der Name dieses Ortes, bei dem sich im Oktober 1941 die unfassbarsten Massenermordungen ereigneten, die von einer Reihe der Beteiligten nur alkoholisiert überstanden werden konnten, wird von Boeselager nicht ausdrücklich erwähnt. Die Kenntnis von diesem Massaker habe aber Henning von Tresckow und Rudolf von Gersdorff, so Boeselager, in ihrer „Entscheidung zum Widerstand“ bestätigt.)

Hoffmann weist deutlich auf die moralische Empörung Boeselagers und seiner Mitverschworenen „über die von deutscher Seite begangenen Verbrechen gegen Juden und andere Minderheiten“ hin. Boeselagers Erinnerungen „sind aber auch Zeugnis für den Zwiespalt, der sich ergab, weil man den Krieg im Osten aus zwingenden Gründen nicht verlieren wollte und zugleich mit der Fortsetzung des Kampfes die Fortsetzung der Verbrechen Hitlers und der von dem Diktator der Wehrmacht auferlegten Komplizenschaft daran ermöglichte.“

Einige Leser werden sich wundern, dass Boeselager doch relativ eindringlich auf die Kämpfe des Westfeldzugs 1940 und vor allem in Russland eingeht. Aber er war in erster Linie Frontoffizier, trotz der Monate von 1942 bis 1943 als Ordonnanzoffizier bei Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge, der die Heeresgruppe Mitte befehligte. Gerade der Wechsel von Besprechungen und Überlegungen über ein Attentat einerseits und Kampfhandlungen andererseits vermittelt die besondere Lage, in der sich ein Frontoffizier befand, der zugleich Verschwörer war. Was stellte für einen Offizier, der sich auch für seine Soldaten verantwortlich fühlte, die größere Belastung dar? Oder war es für einen an der Front Kämpfenden sogar noch leichter, mit der Dauerbelastung und den Ungewissheiten eines bevorstehenden Attentats zurechtzukommen?

In den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“, einer einflussreichen und angesehenen Fachzeitschrift, wird seit 2004 eine Kontroverse ausgetragen, in der es um die Verstrickung der Widerstandsangehörigen um Tresckow (im Stab der Heeresgruppe Mitte) in die Verbrechen an der Ostfront geht. Manche Sätze Boeselagers lesen sich wie Kommentare, Ergänzungen und Stellungnahmen zu dieser Auseinandersetzung:

- Boeselager erinnert sich, dass die Russen selbst „eine Taktik der verbrannten Erde“ angewandt hatten. Das russische Volk sei den Deutschen gegenüber „ausgesprochen wohlgesonnen“ gewesen, was den Trugschluss eines raschen Endes des Krieges im Osten gefördert habe. Schließlich habe man erkennen müssen, dass ein Blitzkrieg in dem riesigen Land nicht möglich war.

- Im rückwärtigen Heeresgebiet, das der Befehlsgewalt der Wehrmacht unterstand, habe „die SS nur zur Partisanenbekämpfung“ eingreifen dürfen. Boeselager weist darauf hin, dass dieses „Arrangement [der militärischen Führung] mit dem Naziregime“ heute kritisiert und verurteilt werde. „Doch die Partisanen führten hinter der Front einen gnadenlosen Guerillakrieg.“ Offenbar konnte es auch zu einer durch Wechselwirkungen eskalierenden Radikalisierung kommen: „Die SS hatte in ihrem Kampf gegen Partisanen ganze Dörfer in Schutt und Asche gelegt.“

- Boeselager erinnert an die Grausamkeiten der kommunistischen Kommissare, die vielen Deutschen als „Barbaren“ erschienen, fügt aber sofort hinzu, „dass die Russen nicht das Monopol auf die Barbarei besaßen: Die SS und ihre Hilfstruppen übten sich gleichermaßen in Bestialität, ja selbst der gewöhnliche Wehrmachtssoldat ließ sich in einzelnen Fällen von dieser Grausamkeit anstecken. Nun ging es nicht nur darum, die russische Dampfwalze in ihrem Vorwärtsdrang nach Europa zu stoppen, sondern dem Vernichtungswillen der SS Einhalt zu gebieten.“ Und: „Der berüchtigte Kommissarbefehl, der vorsah, gefangen genommene Politkommissare sofort zu erschießen, erreichte nie meine Einheit und wurde auch in meiner Umgebung nicht ausgeführt.“

- Im Frühjahr 1943 wandte sich ein Offizier an Boeselager und berichtete, dass er Zeuge von Gesprächen unter Angehörigen des SD geworden war, die sich damit brüsteten, „im Bereich der Heeresgruppe Süd 250 000 Juden umgebracht zu haben.“ Boeselager informierte darüber sowohl Kluge als auch Tresckow; letzterer ordnete daraufhin an, dass „das Sammeln und Versammeln von russischen Zivilisten verboten wurde.“ Diese Maßnahme soll tatsächlich „das Ausmaß der Massaker des Sicherheitsdienstes in diesem Bereich“ der Ostfront erheblich verringert haben.

Generalfeldmarschall von Kluge habe nach Boeselagers Ansicht von „Verbrechen großen Ausmaßes“ wissen müssen. Im Juni 1942 hatte Boeselager an einer Unterredung zwischen SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski und Kluge teilgenommen, die aufgrund von Divergenzen über die Partisanenbekämpfung und die so genannte Sonderbehandlung von Zigeunern (und Juden) in wechselseitiger Erregung endete. Bach-Zelewski äußerte sich deutlich genug, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass alle Juden und Zigeuner, derer man habhaft werden konnte, unterschiedslos ermordet wurden.

Kluge wandte sich zwar mit einem Protest an Halder, den Generalstabschef des Heeres, doch bestand der einzige Erfolg darin, dass die Heeresgruppe Mitte nie wieder etwas von Bach-Zelewski hörte, weil dieser offenbar in Zukunft darauf verzichtete, Meldungen durchgeführter Maßnahmen weiterzureichen. Obwohl Boeselager „schon von Gräueltaten der SS in den eroberten polnischen Gebieten gehört“ hatte, meinte er: „Nach diesem Vorfall änderte sich meine Sicht des Krieges.“

Bis dahin habe man sich oft damit beruhigt, Untaten als „vereinzelte Entgleisungen“ zu betrachten. Fortan habe man aber die Systematik der Verbrechen erkannt. „Und die Armee machte sich durch ihr Schweigen und ihren Gehorsam zum Komplizen dieses Systems. Uns Heutigen scheint dieser Sachverhalt sonnenklar. Für die Zeitgenossen war es das keineswegs“. Boeselager erkannte, „dass man im Stab [der Heeresgruppe Mitte] von Judenerschießungen wusste. Gesprochen wurde darüber nur in Andeutungen und mit Ekel, und man machte die nichtdeutschen Truppen der SS dafür verantwortlich.“

Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Attentats trugen viele der Verschwörer innere Kämpfe mit sich aus. Auch wenn es sich gegen einen Tyrannen richtete, blieb es doch Mord und Verrat. „Der Entscheidung, sich einer Widerstandsbewegung anzuschließen, geht eine lange persönliche Entwicklung voraus.“ Boeselager betonte, dass man seinen eigenen Weg nicht verallgemeinern könne. Dieser Weg war „von zufälligen Umständen“ abhängig. In seinem Falle war es in erster Linie die Begegnung mit einer so außergewöhnlichen Persönlichkeit wie Henning von Tresckow.

Im Herbst 1942 offenbarte sich Tresckow mit einer Bemerkung und löste damit die für Boeselager erleichternde Empfindung aus, „keine Wahl“ mehr zu haben. Boeselager lässt keine Zweifel an den menschlichen und charakterlichen Qualitäten Tresckows, seiner Klugheit und seinem Charisma: „Dank Tresckow war ich der Spirale von Schweigen, Gewissensbissen, Angst und Ekel entronnen.“ Auch Tresckows Entschluss zum Widerstand sei allmählich gereift und verstärkt worden durch die seit dem Krieg gegen die Sowjetunion sich häufenden Hinweise auf Gräueltaten. Außerdem habe Gersdorff von der Abwehr durch Hans Oster, der von Boeselager übrigens als „Gehirn“ des Verschwörerkreises gewürdigt wird, Informationen über Verbrechen erhalten, die er an Tresckow weiterleitete. Anfang 1944 habe Tresckow Boeselager gegenüber die Erforderlichkeit eines Attentats mit dem Hinweis auf die Rettung weiterer Menschenleben begründet.

Boeselagers Erinnerungen lassen erneut über das Zaudern Kluges nachdenken. Ende 1942 war Kluge, den Boeselager als „eine interessante Persönlichkeit“ beurteilte, bereit, ein Attentat auf Hitler zu unterstützen. Nach Boeselager habe er in den kommenden Monaten „eine Haltung wohlmeinender Neutralität“ eingenommen. Anfang Juli 1944 wurde er Nachfolger Rundstedts als Oberbefehlshaber der Westfront.

Aber wiederholt versagte er sich den Plänen und Vorschlägen Tresckows, die ihm Philipps Bruder Georg vortrug, ein hoch dekorierter Offizier, der unter einem kuriosen Vorwand nach Paris gereist war: die Tötung Hitlers, eine bedingungslose Kapitulation im Westen und ein Flug Georgs nach England, um die Chancen für eine Teilkapitulation zu eruieren. Kluges Verweigerung in den Momenten, in denen es darauf ankam, hat ihm gleichwohl den Selbstmord im August nicht erspart. Hätte er am Abend des 20. Juli Carl-Heinrich von Stülpnagel und Caesar von Hofacker unterstützt – vielleicht hätte dann alles einen ganz anderen Gang genommen? Ob auch einen besseren?

Wenn manche der von Boeselager erwähnten zeitlichen Zusammenhänge, manche der Datierungen zum verwunderten Vor- oder Zurückblättern veranlassen, dann mag das damit zu tun haben, dass der Text aus Gesprächen entstanden ist. (Seine Einheit konnte Ende Juni 1941 nicht am Dnjepr liegen, wenn sie„erst Wochen später [nach dem Angriff auf die Sowjetunion] aus Frankreich herangeführt und in die Offensive geworfen“ wurde; Kluge konnte nicht erst Mitte Oktober 1943 Hitler davon überzeugt haben, Smolensk aufzugeben, wenn die Stadt doch schon Ende September von den sowjetischen Truppen zurückerobert worden war; die Rote Armee konnte Mitte April nicht „vor den Toren Österreichs“ stehen, wenn Wien gerade gefallen war.)

Boeselagers Erinnerungen zeigen, dass es einige der Besten waren, die ihr Leben verloren – wenn nicht an der Front, so durch die Verfolgung von Himmlers Schergen. Sie machen dem Leser – fast beiläufig nur, aber um so nachhaltiger – bewusst, dass es bei denen, die sich im Widerstand engagierten, auf ihre Persönlichkeit ankam – auf etwas heute zutiefst altmodisch Anmutendes und scheinbar verloren Gegangenes: auf Charakter.

Fast fremd und wie aus einer weit zurückliegenden Epoche erscheint die große Bereitschaft zum persönlichen Opfer und die unbändige Liebe zu einem in seinen Grenzen, in seiner Souveränität und in seiner Ehre unverletzten Deutschland. Boeselagers Erinnerungen stellen dem Leser die unausgesprochene Frage: Unter welchen Bedingungen ist das eigene Leben als etwas Akzidentielles zu betrachten, das einem übergeordneten Ziel gegenüber zweitrangig ist und ein Handeln nach ethisch-humanistischen Prinzipien verlangt?

Wer die biographischen Aufzeichnungen über Boeselager, die sein Freund und ehemaliger Kriegskamerad Antonius John und die schon erwähnte Biographie von Meding und Sarkowicz gelesen hat, dem wird viel von den Erinnerungen Boeselagers bekannt sein. Ihr Wert liegt aber nicht in sensationellen Enthüllungen, die den Widerstand oder die Kämpfe an der Ostfront in neuem Licht erscheinen lassen. Vielmehr ergänzen sie die anderen Schriften von und über Boeselager.

Im Vergleich zu diesen aber geben sie den geschlossensten und unmittelbarsten Eindruck seiner fesselnden Erlebnisse. Die Lektüre lohnt sich allein schon aufgrund der unglaublichen Husarenstücke, von denen Boeselager berichten konnte; und sein ihn anhänglich verfolgendes Glück, mit dem er mehrfache Verwundungen selbst in winterlicher Eiseskälte überleben und den bedrohlichsten Situationen entrinnen konnte, fasziniert und begeistert.

Es ist die Lektüre solcher Bücher, die das, was wir Wirklichkeit nennen, unergründlicher, geheimnisvoller, phantastischer, unfassbarer und wahrhaftiger erscheinen lässt als jede Erdichtung und Fiktion. Vielleicht sind es gerade solche Bücher, die einen Menschen, dem alles Vergangene belanglos und langweilig erscheint, derart in die Geschichte ziehen können, dass er nicht mehr von ihr loskommt.

Von Andreas R. Klose

Literaturangaben:
BOESELAGER, PHILIPP VON (mit Florence und Jérôme Fehrenbach): Wir wollten Hitler töten: Ein letzter Zeuge des 20. Juli erinnert sich. Übersetzt aus dem Französischen von Reinhard Tiffert. Mit einem Nachwort von Peter Hoffmann. Carl Hanser Verlag, München 2008. 191 S., 17,90 €.

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