Von Anett Böttger
HOYERSWERDA (BLK) – „Nur der kleine Volker Braun, Abiturient und seit vier Jahren in der Produktion, scheint begabt zu sein“, schrieb die Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933-1973) im Februar 1960 in ihr Tagebuch. In Hoyerswerda (Sachsen) hatte sich zu damaligen DDR-Zeiten ein Zirkel schreibender Arbeiter gegründet, wo die kritische Autorin den späteren Kollegen Braun kennenlernte. Der arbeitete seinerzeit als Maschinist im Tagebau Burghammer, bevor er zum Studium nach Leipzig ging. Braun hat seine Erlebnisse mit dem Schriftstellerpaar Brigitte Reimann und Siegfried Pietschmann für ein Buch niedergeschrieben, das der Hoyerswerdaer Kunstverein in diesem Sommer herausbringt.
Unter dem Titel „Was wir auf dem Herzen haben“ sind Berichte von 59 Zeitzeugen über Begegnungen oder ihr Leben mit der streitbaren Autorin zusammengefasst, die am 21. Juli (2008) 75 Jahre alt geworden wäre. An ihrem Geburtstag wird das Werk in Hoyerswerda vorgestellt. Reimann kam 1960 in die Stadt, die danach in rasantem Tempo wuchs. Im Neustadt-Wohnkomplex I bezog sie mit ihrem Mann eine Wohnung und arbeitete im nahegelegenen Kombinat Schwarze Pumpe in einer Rohrlegerbrigade.
In dem unvollendeten Roman „Franziska Linkerhand“, an dem sie etwa zehn Jahre schrieb, setzte Reimann der Stadt ein Denkmal. „Sie kam mit Euphorie und ging mit kritischem Blick weg“, urteilt der Vorsitzende des Kunstvereins, Martin Schmidt. Überhaupt ging die Autorin in ihrem Werk häufig auf Distanz zur DDR. 1968 zog sie nach Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern), mit erst 39 Jahren starb sie 1973 an Krebs. Im Zeitzeugenbuch sind alle Perioden ihres kurzen, aber intensiven Lebens erfasst. Begleiter aus früher Kindheit und Freunde kommen dort ebenso zu Wort wie Schriftstellerkollegen, darunter Reiner Kunze und Helmut Sakowski.
Die meisten der rund 600 Buchseiten sind Reimanns Jahren in Hoyerswerda gewidmet. Der Kunstverein scheute keine Mühe, Zeitzeugen ausfindig zu machen und ihre Erinnerungen an die Autorin in Tonbandprotokollen festzuhalten. So äußerten sich frühere Wohnungsnachbarn, eine Schneiderin oder Kollegen aus der Brigade in Schwarze Pumpe. Auf diese Weise soll das im Eigenverlag des Vereins herausgegebene Buch ein lebendiges Bild der Frau und der damaligen Zeit zeichnen.
Die Sammlung der Zeitzeugenberichte füllt eine Lücke, die demnächst nicht mehr zu schließen ist. Authentische Erinnerungen gehen verloren, weil immer mehr ihrer Weggefährten sterben, findet Angela Drescher vom Berliner Aufbau-Verlag. Sie hat unter anderem Reimanns Tagebücher sowie deren Briefwechsel mit Jugendfreundin Irmgard Weinhofen und der Schriftstellerin Christa Wolf herausgegeben.
„Sie war wahnsinnig fleißig“, sagt Drescher über Reimanns Korrespondenz. Nur ein Bruchteil sei bislang veröffentlicht. Zum 75. Geburtstag sind im Aufbau-Verlag gerade Briefe an ihre Eltern erschienen. Unter dem Titel „Jede Sorte von Glück“ ist auf 460 Seiten nachzulesen, was die Autorin Vater und Mutter zwischen 1960 und 1972 anvertraute. Drescher glaubt, dass sich diese Neuerscheinung und das Zeitzeugenbuch des Kunstvereins Hoyerswerda gut ergänzen.
Literaturangaben:
REIMANN, BRIGITTE: Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern. Herausgegeben von Heide Hampel und Angela Drescher. Aufbau Verlag, Berlin 2008. 459 S., 24,95 €.
---: Franziska Linkerhand. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 1998. 639 S., 12,95 €.
SCHMIDT, HELENE / SCHMIDT, MARTIN (Hrsg.): Was ich auf dem Herzen habe – Begegnungen mit Brigitte Reimann, Zeitzeugen berichten. Hoyerswerdaer Kunstverein, Hoyerswerda 2008. 632 S., 96 Abb., 28,90 €.
Weblink
Verlag