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Reportagen: „Brüssel zartherb“

Fünfzig Expeditionen durch das Reich der Eurokraten

© Die Berliner Literaturkritik, 30.06.10
Martin Leidenfrost (c) Picus Verlag

Martin Leidenfrost - © Picus Verlag

Von Leonhard Reul

Martin Leidenfrost zu lesen macht Spaß. Dies können sicher viele „Spectrum“-Leser (so heißt die Wochenendbeilage der österreichischen Zeitung „Die Presse“) bestätigen. Dort machte Leidenfrost durch ein schönes Experiment von sich reden: Er zog für ein Kolumnenprojekt oben genannter Zeitung nach Nova Ves in die Slowakei und erforschte „Die Welt hinter Wien“. Diese 2008 auch bei Picus erschienenen Einwürfe sorgten für ungewohnte Einblicke in die östliche Hemisphäre, oftmals portraitierte Leidenfrost exzentrische „Originale“, die dem Leser noch lange in Erinnerung blieben. Dem Beobachter gefiel seine neue slowakische Wahlheimat übrigens so gut, dass er dort gleich wohnen blieb.

Für ein neues Projekt machte sich der Enddreißiger jetzt auf nach Brüssel - ins politische Herz Europas. Und das ist bemerkenswert. Schon allein deshalb, weil Leidenfrost bekundet, die Langeweile nicht zu mögen. Und Europa-Brüssel wird doch gemeinhin für den Inbegriff der Langeweile gehalten. Doch dieser Einschätzung will Leidenfrost auf verschiedenste Weise begegnen. Zunächst wählt er eine eigenwillige Perspektive; nicht als Europapolitik-Korrespondent zieht er nach Brüssel, sondern als humanistischer Beobachter, der ein europäisches Pendant zu „Sex in the City“ schaffen will - die Lebensart der „Eurokraten“ hat er im Blick. Passend dazu die eigenwillige Verortung und Beobachtungsbasis in Brüssel. Nicht als in Hotels nächtigender Pressekonferenzenbesucher ist Martin Leidenfrost unterwegs, sondern als „Couchsurfer“ bei diversen Gastgebern, die alle einen anderen Blickwinkel auf Europa haben.

Natürlich unterlässt es der Journalist nicht, die neuralgischen Punkte der Europäischen Union aufzusuchen - allein er verweilt abseits des Rampenlichts. So sitzt er zum Beispiel in den EU-Kantinen und beobachtet sensibel das Gebaren der dort anzutreffenden Elite-Europäer. Die sich in einzelne Untergruppen aufspalten: Beamte, Lobbyisten, Repräsentanten, Assistenten, Politiker und Praktikanten. Und je nach Verwendungszweck agieren - all diese Uniformierten („ohne Manschettenknöpfe bist du dort nackt“, schreibt er) eint eine wohl bezahlte Einsamkeit - trotz oder gerade wegen unzähliger Briefings und Meetings mit Networking und Visitenkartenaustausch. Wie bleibt der Europa-Mensch dennoch Mensch oder zeigt gar anderen gegenüber Menschlichkeit? Dieser Frage geht Leidenfrost in so mancher der in Summe 50 Kolumnen des über 250 Seiten starken Buches nach.

Leidenfrost analysiert die Ziele, das Lebensgefühl einiger der über 50.000 für Europa Tätigen - wie sie in ihren nationalen Gemeinschaften (ganz entgegen der europäischen Idee) ihre eigenen Bräuche weiterhin unverwässert pflegen; wie sie im Exzess ein Maximum an Leben (v)erleben wollen; wohin sie mit welchen Mitteln auf der Karriereleiter streben. Aber auch was ihnen außerhalb ihrer (momentanen) europabezogenen Tätigkeit wichtig wäre - wie zum Beispiel Staszeks Sehnsucht nach einer Frau. Dieser polnische Eurokrat hat es unserem Autor besonders angetan; er trifft ihn häufig und treibt mit ihm so manchen Spaß.

Begleitet ihn in diverse Bars, auf den EU-„Fleischmarkt“, wo der füllige Pole letztlich doch wieder allein bleiben wird. Die Geheimtipps einer waschechten (auch Waschsalon-Atmosphäre fängt unser Autor übrigens nur allzu gut ein) Brüsslerin helfen Staszek nicht weiter. Die exotischen Afrikanerinnen sprechen wiederum Staszek nicht an. Durch solche Bar-Besuche kommen wir Leser auch mit Minderheiten in Kontakt, die das europäische Macht- und Geldgetriebe letztlich auch (ver)braucht - ganz ungeachtet der sonst propagierten Political Correctness. Eine Minderheit sind in manchen Stadtteilen die Brüssler selbst geworden, auch sie kommen im Buch zu Wort und tragen zum Europaskeptizismus bei.

Der kommt selbst beim sich nicht in derlei Belange einmischen wollenden Kolumnisten auf. Mit Schärfe kritisiert er zum Beispiel den Gesundheits-Wahn der Eurokraten, seine Feldstudien zeigten ihm nur hagere Gestalten, aber keine Dicken, die den Betrieb etwas gemütlicher erscheinen lassen könnten. Damit zu verbinden ist wohl auch das Beamtentum. Doch das erscheint ihm ganz und gar nicht gemütlich, dafür aber lebenslang für Europa politisch gestaltend aktiv - oftmals ohne expliziten Wahlauftrag. Das bringt nicht nur unseren Beobachter auf die Palme, sondern auch die professionellen Europaskeptiker. Von denen Leidenfrost aber auch nicht viel Substanzielles zur alternativen Gestaltbarkeit von Macht erfährt; auch diese denken schon allzu sehr in bekannten europäischen (Struktur-)Bahnen. Was tun?

Die Antwort auf diese Frage bleibt uns Leidenfrost schuldig. Doch er ist nicht nach Brüssel gefahren, um uns Antworten zu geben. Er beobachtet genau das Abseitige, was kein abwegiges Unterfangen ist. Er zeigt den EU-Betrieb differenziert auf, was gut tut, ist doch der Blick auf Europa oftmals ein allzu einseitiger. Er stellt uns Lesern Fragen und hilft uns unsere Haltung zu Europa und den politisch-administrativen Wasserkopf Brüssel zu bedenken. Er lässt uns verstehen, warum viele Prozesse und Entscheidungen so widersinnig erscheinen: weil sie (auch wenn das jetzt platt klingt) Menschenwerk sind - und zwar von Menschen, die in ihren Entscheidungen oftmals andere denn europäische Interessen wahren (zu müssen glauben). Dass diese Einsichten nicht dröge daher kommen, nicht (allzu sehr) schmerzen, ist Martin Leidenfrosts Verdienst: Er zeigt uns eine EU „mit menschlichem Antlitz“ - in fünfzig auch einzeln sehr lesenswerten, leichtfüßig geschriebenen und dennoch wohl komponierten Kapiteln.

Literaturangabe:

LEIDENFROST, MARTIN: Brüssel zartherb. Fünfzig europäische Expeditionen.  Picus Verlag, Wien 2010. 256 S., 19,90 €.

Weblink:

Picus Verlag


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