Vor 58 Jahren, am 24. August 1950, starb Ernst Wiechert an Krebs auf dem Rütihof in Uerikon am Zürichsee. Sein Geburtstag liegt gut 120 Jahre zurück – am 18. Mai 1887 wurde er im Forsthaus Kleinort bei Peitschendorf (heute Piecki in Polen) geboren. Hier haben wir auch die geistigen Grundlagen seines Dichtertums zu suchen. Denn Wiecherts Romane, Erzählungen und Märchen spielen fast ausnahmslos in seiner ostpreußischen Heimatlandschaft. Masurens Wälder, diese Landschaft mit ihren Mooren, Seen und dem Ruf des Kranichs haben ihn geprägt.
Sein literarisches Können reichte aus, um mehr zu sein als ein „Heimatdichter“ wie mancher in dieser Region einst wirkende Schriftsteller. Das Aufwachsen in Stille und Versunkenheit, die Bereitschaft, dem Wort der Bibel unerschütterlich zu vertrauen, findet sich in den Charakterzügen Wiechert’scher Gestalten wieder. Nicht selten wird ein Stück östlicher Mystik heraufbeschworen. Und immer wieder klingt dieses Leitmotiv an: Wem die innere Bindung an Landschaft und Natur versagt bleibt, dem wird es nicht gelingen, ein sinnvolles Leben zu führen.
Wiechert war ein konservativer Autor von deutsch-nationaler Gesinnung. Die Weimarer Republik war dem in Monarchie und Kaiserreich aufgewachsenen Schriftsteller zuwider. Aber auch die NS-Gewaltherrschaft mit ihren Konzentrationslagern vermochte es nicht, ihn mundtot zu machen. Sie trieb ihn in die so genannte „innere Emigration“. Und als dann nach 1945 die Besatzungszeit anbrach, trugen seine Vorwürfe und Botschaften, von unbelehrbaren Zeitgenossen missverstanden, dazu bei, dass er 1948 seinen Hof Gagert in Wolfratshausen verließ und den letzten Wohnsitz in die Schweiz verlegte. Auch in Wiechert verkörpert sich so ein Stück Schicksal und Gewissen der Deutschen.
In keiner Phase seines Lebens war Wiechert ein unpolitischer Mensch gewesen. Wenn er in München 1933 und 1935 mit zwei mutigen Reden Kritik an der braunen Gewaltherrschaft übte, dann korrespondieren seine politischen Ansichten und Mahnungen durchaus mit Erkenntnissen, die sich auch in seinem literarischen Werk aufspüren lassen. Nach seinem 50. Geburtstag 1937 empfand er die „guten Deutschen“ unter seinen Lesern wie eine heimliche Mauer, die ihn schützte. Und als er ein Jahr später in Untersuchungshaft saß, schrieb er am 10. Mai 1938 an seine Frau Lilje: „Wer sein Leben lang nach innen gelebt hat, ist gegen jedes Schicksal gerüstet“.
Er hat es nie als seine Aufgabe betrachtet, die Hitler-Diktatur mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Er wollte mit seinem literarischen Werk eine Gegenwelt schaffen und so dem Leser den Rückzug aus einer ungeliebten Gesellschaftsordnung nahe legen. Als er seinen Freund Friedrich Tucholski am 9. Juni 1936 vom Bau des Hofes Gagert informierte, vertraute er ihm an: „…und im Herbst soll es soweit sein, dass wir das Tor vor der Welt zumachen dürfen, um zu pflanzen und zu ernten.“
Die NS-Machthaber hatten zunächst geglaubt, die wertkonservativen Botschaften und die suggestiv-vereinnahmende Sprache dieses Dichters, die einen gewaltigen Rückhalt bei den Lesern hatten, für sich vereinnahmen zu können. Oder, was den Sachverhalt wohl besser beschreibt: Man nahm zunächst keine weitere Notiz von ihm. Nach den Münchner Reden und auf Grund seiner vielen Lesungen wurde er aber bald als „unzuverlässig“ und “schädlich“ eingestuft und sollte nun „gewaltsam zur Besinnung gebracht“ werden. So lautete die offizielle Version des „Sicherheitshauptamtes“.
Anfang Mai 1938 war Wiechert von der Gestapo verhaftet worden. Er hatte sich nicht an der so genannten „Volksabstimmung“ über die Annexion Österreichs beteiligt und Geldspenden für das NS-Winterhilfswerk abgelehnt, „solange Pastor Niemöller widerrechtlich in Haft gehalten wird und seine Frau in Notlage leben muss“. Wiechert wurde ins KZ Buchenwald eingeliefert, war nun wie alle Träger des roten Dreiecks ein Verurteilter in „unbefristeter Schutzhaft“ und konnte nur noch auf dem Gnadenweg entlassen werden. Am 30. August 1938 kam er wieder frei, war aber physisch und moralisch gebrochen. Propagandaminister Goebbels ließ sich Wiechert vorführen und hoffte, seinen Widerstand gebrochen zu haben.
Aber wenn er Widerstand leistete und in seiner geradlinigen menschlichen Haltung dafür Opfer brachte, dann um das gefährdete Menschenbild zu bewahren und der Barbarei die Idee der Humanität gegenüberzustellen. Das ist auch das Anliegen seines KZ-Berichtes „Der Totenwald“, den er 1939 schrieb und den er bis zum Mai 1945 im Garten vergraben hatte. Es ist ein erschütterndes Zeugnis für die Bewahrung des Menschlichen inmitten der Unmenschlichkeit. Vielen Irregeführten hat das Buch nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus die Augen geöffnet. Es gehört zu jener Nachkriegsliteratur der ersten Stunde, die die geistige Erneuerung unseres Volkes fördern half.
Aber kann dieser „Bericht“ Wiecherts aus Gestapo-Haft und Internierung in Buchenwald heute mehr als nur ein historisches Dokument sein? Gleichsam dokumentarisch will Wiechert niederschreiben, welchen Grausamkeiten der Mensch ausgesetzt ist, wenn er in die Hände von Unmenschen fällt. Er notiert, was die „Seele“ empfunden, weniger, was er mit eigenen Augen im KZ gesehen hat: „Er sah die Gesichter, eines nach dem andern, wie sie an ihm vorüber kamen, erloschen, ertötet, bis auf die Knochen eingedörrt. Er sah die gekrümmten Gestalten, Skelette mit gespenstischen Armen und Beinen, von Wunden bedeckt, gefärbt von geronnenem Blut. Und er sah den Blick ihrer Augen…Augen, aus denen der Sinn des Lebens gewichen war und somit auch der des Todes…Die nichts mehr begriffen, weil alles Begreifbare in der Hölle der Qualen untergegangen war…“
In der Gestalt des Johannes begegnet uns Wiechert selbst, der die Inhaftierung ungebeugt auf sich nimmt. Er spürt im Lager die Solidarität der Antifaschisten: die Fürsorge Josefs, der ihn aus dem Todeskommando im Steinbruch rettet, das Verständnis Walter Husemanns, in dessen Bibliotheksraum er „nicht mehr eine Maske mit einer Nummer auf der Brust, sondern ein Wesen aus einer geistigen Welt und ein Mensch des inneren Wertes“ war. Der 38-jährige Schlosser Josef Biesel aus Saarbrücken vermittelt ihm im Lager „ein Stück Heimat“ und weist ihn zugleich auf die tödliche Gefahr des Mitleids hin: „Du musst nichts sehen und nichts hören. Du musst durchgehen durch alles wie ein Stein, und erst später…ja, erst später…Wer hier mitleidet, zerbricht!“ Das unfreiwillige Erleben der Gewalt des Guten und des Bösen hält Wiechert fest, um es als Dichter zu verwandeln. „Aber ich habe es niemals so überwunden, dass es ausgelöscht wäre“.
Wiechert hat die Hölle „mit der Seele“ gesehen, schreibt aus der Kraft der Bilder und Visionen. Auf der einen Seite sucht der „Bericht“ aufzuzeigen, wie in einer inhumanen Welt dennoch die persönliche Integrität bewahrt werden kann. Auf der anderen Seite zeigt er, wie Wiechert einer unpolitischen und passiven Innerlichkeit verhaftet ist. Aus der Dichte der Symbolik und aus der stark reflektierenden Schreibweise kann der Leser gerade jenes Erlebnis einer künstlerischen Totalität gewinnen, das dem Autor Kraft gab, das „blinde Gesetz“ des NS-Alltags zu bestehen.
Wie er sofort nach seiner Ankunft in Buchenwald seine Wahrnehmungsfähigkeit schärft, wie sein reflektierendes Ich alles aufnimmt, was um ihn und in ihm geschieht, wie sich das selbsterhaltende Ich bald auflöst in ein Wir des gemeinsamen Schicksals, wie zwischen Gut und Böse klare Fronten geschaffen und zugleich wieder verwischt werden – das ist faszinierend zu lesen. Aber andererseits sucht der Dichter Einzelner zu gedenken, das Massensterben im Lager vermag er nicht zu erfassen. Er sieht den „Elendszug der Juden“ aus dem Steinbruch kommen – das Bild eines „gesteinigten Volkes“ erscheint vor seinem Auge -, aber die Symbolsprache versagt vor dem Grauen in den Gesichtern der jüdischen Häftlinge. Wiechert hat – wie er in seinem Vorwort 1945 geschrieben hat – „nur am Tor gestanden“, sollte „gewaltsam zur Besinnung gebracht“, aber nicht um jeden Preis umgebracht werden.
In der „Bibliothek Suhrkamp“ ist jetzt dieser Band wiederaufgelegt und mit einem anspruchsvollen Essay unter dem Titel „Shoah 1938“ von Klaus Briegleb versehen worden. Der Nachwort-Autor Briegleb bringt das dokumentarische „Material“ bei, das zum geschichtlichen Verständnis des Textes notwendig ist, und erläutert, wie das, was Wiechert im KZ erlebt und gesehen hat, die Subjektivität seiner Erzählweise zu überfordern scheint.
Wiechert sieht die Shoa und er sieht sie „mit der Seele“. Mit dem „Schutzhäftling“ Wiechert wurden im Sommer 1938 anderthalbtausend Juden in Buchenwald eingeliefert, die der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ des Himmler-Heydrich-Apparates zum Opfer gefallen waren. Drei Tage „mit der Seele“ Sehen – so schreibt Briegleb – haben dann dem Dichter genügt, zu erkennen, was der schwarzgelbe Stern an der Häftlingskleidung der „ASR-Juden“ bedeutete. Wiechert, der konservative Autor, erblickte am Rande des Steinbruchs in den „irren, verstörten Augen“ der Geschundenen die Shoa, die er aber noch nicht zu benennen vermochte, als er 1939 ihre „Realvision“ aufschrieb. Das wäre in der Tat eine akzeptable Lesart, unter der die Lektüre dieses Buches heute erfolgen könnte.
Literaturangaben:
WIECHERT, ERNST: Der Totenwald. Ein Bericht. Mit einem Essay von Klaus Briegleb. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 184 S., 13,80 €.
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