Von Susanna Gilbert-Sättele
Es war zu erwarten, dass unter den vielen Büchern über die Künstler von Worpswede irgendwann einmal auch eines über deren Verstrickungen im Dritten Reich auftauchen würde. Nun hat es der als Theaterschriftsteller erfolgsverwöhnte Moritz Rinke geschrieben. Sein Erstlingsroman über die Ende des 19. Jahrhunderts im Teufelsmoor Worpswede gegründete Künstlerkolonie stellt die Familiengeschichte der Künstlerfamilie Kück und die Beziehung eines von ihnen zu den Nazis in den Mittelpunkt.
Rinke plaudert hier aus dem Nähkästchen, wurde er doch selbst 1967 in dem nahe Bremen gelegenen Worpswede geboren. So korrespondieren in seinem Buch „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ autobiografische Passagen und die fiktive Geschichte der Kücks mit der historischen Wahrheit von Worpswede, das nicht nur Maler und Bildhauer, sondern auch Rainer Maria Rilke und selbst Gottfried Benn inspirierte.
Zunächst kommt Paul Wendland, eine Art Alter Ego des Verfassers, von Berlin nach Worpswede zurück, um das geschichtsträchtige Haus seines Großvaters vor dem Versinken im Moor zu retten. Er selbst ist als Galerist in Berlin bei dem Versuch gescheitert, einem blinden Maler zum Durchbruch zu verhelfen. Im Garten des großväterlichen Anwesens stehen lebensgroße Bronzefiguren von Martin Luther, Max Schmeling, Heinz Rühmann, Napoleon - und von Willy Brandt, der der Großvater Modell gesessen haben soll.
Als Beweis für den Besuch des großen Sozialdemokraten hat Pauls Großmutter ein angebissenes Stück Butterkuchen in der Tiefkühltruhe aufbewahrt. Das, so wird berichtet, habe der Regierungschef nicht vollständig aufessen können, weil ihn die Spionage-Affäre um Günter Guillaume kurzfristig wieder nach Bonn zurückzwang.
Der Besuch des Kanzlers war dem Großvater überaus wichtig, konnte er sich doch damit vor seinen Künstlerfreunden und Besuchern als Sozialdemokrat brüsten. Dass diese Attitüde nur verbergen sollte, wie sehr der Opa einst mit Nazi-Größen sympathisierte, das entdeckt Paul während der Sanierungsarbeiten an seinem Erbe, dem versinkenden Haus. Offenbar, so merkt der Enkel bald, hatte der Großvater die örtlichen NS-Funktionäre ebenfalls in Bronze gegossen - so auch den Reichsbauernführer, dessen Statue bei Kriegsende im Morast versenkt worden war. Doch das Moor gibt sein Geheimnis wieder frei, und Paul kommt Stück für Stück dem Geflecht aus Lügen und Geheimnissen auf die Spur. Bei seinen Recherchen erlebt Paul skurrile Szenen, deren Situationskomik Rinke gekonnt darzustellen weiß.
Unterstützt wird Paul von „Null-Kück“, der – debil geboren – bis jetzt allein in dem Haus lebte. Ihn hatte der Großvater kurzerhand zur „Null“ erklärt, da seine Geburt geheimnisumwittert war, und er ihm nicht den Status eines Vollmitglieds der berühmten Maler- und Bildhauer-Familie zugestehen wollte.
Umwerfend komisch, mitunter tragikomisch, erzählt Paul seinen Lesern, wie er etwa in einem großen Eichenschrank in Großvaters Haus geboren wurde, der jetzt allerdings wegen seines schweren Gewichts ebenfalls im Moor zu verschwinden droht. Pauls eigenwillige Mutter, die sich für archaische Kulturen begeistert, hatte sich an die Kleiderstange gehängt und in dieser Position ihr Kind zur Welt gebracht.
Rinke lockt mit seiner Fabulierkunst so manches Schmunzeln auf die Lippen seiner Leser, so auch, wenn er vom Gemeinschaftsbesuch von Parkinson-Patienten im Bordell von Worpswede erzählt: Die Patienten der naheliegenden Klinik in Osterholz pflegten in großen Gruppen im „Don Camillo Club“ zu erscheinen und gleich die gesamte Belegschaft zu buchen. Die Ärzte hatten ihnen nämlich einen Wirkstoff verabreicht, der das Zittern minderte, dafür aber die erotische Spannung anfachte. Für Ohlrogge, einen Stammkunden im Puff, war das Pech, denn er musste sich hinten anstellen. Dass dieser Ohlrogge sich im Zuge der Enthüllungen über den Großvater als Pauls eigentlicher Vater entpuppte, gehört zu den tragischen Momenten des Buchs.
Ein großes Heimatepos ist der Roman von Moritz Rinke sicherlich nicht. Dafür fehlt dem Sammelsurium an originellen Einfällen und Anekdoten die epische Tiefe. Der Autor, der für sein Theaterstück „Republik Vineta“ viel Kritikerlob bekam, folgte vermutlich dem aktuellen Trend vieler jüngerer Autoren, die sich als Enkel mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Großeltern auseinandersetzen. Gleichwohl bleibt der Roman lesenswert - als unterhaltsame Geschichtensammlung, als Psychogramm kauziger Gestalten und als gelungener Versuch, den Mythos von der über allem erhabenen Künstlerkolonie ein klein wenig infrage zu stellen.
Literaturangabe:
RINKE, MORITZ: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 482 S., 19,95 €.
Weblink: Kiepenheuer & Witsch