Werbung

Werbung

Werbung

Cecilia und die Gewalt der Musik

Tiziano Scarpas Roman „Stabat mater“

© Die Berliner Literaturkritik, 12.04.10

Von Alexander Kluy

„Frau Mutter, es ist tiefe Nacht, ich bin aufgestanden und hierher gekommen, um Euch zu schreiben.“ Cecilia schreibt, es ist das Jahr 1702, ihrer Mutter. Die sie nie kannte; und, es ist zu ergänzen, auch nie kennen lernen wird. Sechzehn Jahre zuvor wurde sie als Neugeborene in einer Nische des Ospedale della Pietà in Venedig, eines von Nonnen geleiteten Waisenhauses, abgelegt. Ihr gesamtes Leben kannte sie nichts anderes denn diese Anstalt. Der Venezianer Tiziano Scarpa, 1963 selber im Ospedale zur Welt gekommen, als es schon längst ein Teil des Krankenhauses der Stadt Venedig war, lässt die hochbegabte Musikerin Cecilia nachts, im Geheimen, Briefe an die Mutter formulieren. In diesen tagebuchartigen Notaten vereinen sich Sehnsucht und Zweifel, Ängste, Sensibilität und Schilderungen des Alltags im Waisenhaus. Immer wieder auch das, was in heutiger medizinischer Terminologie Depression heißt: „Eine Flut bitterer Gedanken steigt in mir auf und schnürt mir die Kehle zu. … Die Welle wächst rasch an und überschwemmt alles. Es ist eine schwarze, giftige Flüssigkeit.“

Es ist dieser Kunstgriff der Rollenprosa, der die gelegentlich sehr emphatischen, fast ins Aphoristische abgleitenden Sätze Scarpas, einer der interessantesten jüngeren Autoren Italiens, so lesbar machen - „Wir sind Fische des Abgrunds, wir besingen unsere Geburt, die nie stattgefunden hat.“. Zugleich ist die Geschichte des Waisenmädchens mit dem symbolschweren Vornamen, ist doch die heilige Cäcilie die Patronin der Kirchenmusik, eine des Aufrüttelns, des Aufbruchs und der Befreiung zum Leben. Denn nach dem Tod des nur mäßig inspirierten Chorleiters und Hauskomponisten Don Giulio tritt ein junger Priester dessen Stelle an. Sein Name: Antonio Vivaldi. Der heute wohl bekannteste Komponist des Hochbarock, „il prete rosso“, der rote Priester, so genannt wegen seiner roten Haare, war tatsächlich von 1703 bis 1716, mit einer zweijährigen Unterbrechung, als Dirigent und Hauskomponist am Ospedale tätig. (Ende Juli 1741 starb er ziemlich vergessen in Wien und wurde auf dem Spitaller Gottsacker beigesetzt, dort, wo heute das Hauptgebäude der Technischen Universität steht.) Vivaldi will Neues in das Musizieren der Mädchen bringen: Emotionen, Erschütterungen, Elemente der Realität. All dies kennt sie nicht. Und das alles sind Katalysatoren und führen zu existenzielle Bruchstellen. So wird Cecilia gezwungen, ein Lamm zu schlachten, aus dessen Darm die neuen Saiten ihrer Violine hergestellt werden.

„Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt“, schrieb E. T. A. Hoffmann. Eben diese Kontraste, Innen- und Außenwelt, die rücksichtslos gehandhabte Kasernierung und emotionale Entkleidung der jungen Mädchen, die noch auf den wenigen Gondelfahrten durch Venedig Gesichtsmasken tragen müssen, und Cecilias schließlich als gelungen kolportierte Flucht aus dem Erziehungskerker, Abstraktion der Musik und Intensität des Lebens - sie bilden das Zentrum dieses schmalen Romans, den Scarpa ursprünglich „Wettstreit zwischen Mutter und Dunkel“ nennen wollte. Und für den ihm vor wenigen Wochen mit hauchdünnem Vorsprung Italiens renommiertester Literaturpreis, der Premio Strega, zugesprochen wurde. Zu Recht. Schon mit seinen früheren Büchern, vorzüglich mit der hochoriginellen und hochliterarischen Studie „Venedig ist ein Fisch“, hat er demonstriert, dass er eine  raffinierte intelligente Prosa schreiben kann, der es nicht an Eindringlichkeit und Biegsamkeit gebricht.

Der „Beziehungszauber“, die Verschränkung von Musik und Literatur ist ein altes Motiv. Diese ungleichen „Genreschwestern“ sind stets ein enges Verhältnis eingegangen, nicht erst in der Romantik, nicht erst bei E. T. A. Hoffmann. Aber erst recht in der Moderne. Thomas Manns „Doktor Faustus“ oder viel später „Schlafes Bruder“ des Vorarlbergers Robert Schneider sind eindrückliche Beispiele für die Synergien von Musik und Klang, Wort und Nachklang. Allein aus dem vergangenen Jahr wären Anna Enquists „Kontrapunkt“, Steven Galloways „Der Cellist von Sarajevo“, Helmut Kraussers „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“ oder Petra Morsbachs „Der Cellospieler“ zu nennen. Zu schweigen davon, dass die Musikhistorie auch von Trivial- und Unterhaltungsautoren geplündert oder mit fiktiven Elementen angereichert wird, von Peter Harris („Die letzte Partitur“) oder von Pascal Mercier in seinem verunglückten Roman „Lea“. Schließlich, so der Titel des jüngsten Gesprächsbuchs des Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim, ist Klang kein unabhängiges Phänomen. In einer ausführlichen Nachbemerkung bekennt Scarpa, sich für sein Pasticcio lose der Historie bedient zu haben. Hier einige Publikationen mehr oder weniger nebenbei durchgeblättert zu haben, dort andere Bücher, die thematisch entfernter waren, eingehender konsultiert zu haben. „Gehört sind Melodien süß, doch ungehört noch süßer“, so der englische Dichter John Keats. Im Falle Tiziano Scarpas ist es um „gelesen“  zu erweitern.

 

Literaturangabe:

SCARPA, TIZIANO: Stabat mater. Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth. Wagenbach Verlag, Berlin 2009. 144 S., 16,90 €.

 

Weblink: Wagenbach Verlag

 

 


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: