Von Wilfried Mommert
BERLIN (BLK) - Christa Wolf hat ihr bisheriges literarisches Archiv bereits der Berliner Akademie der Künste übergeben. Sie weiß, viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, schreibt die 81-jährige Schriftstellerin, die mit Büchern wie „Der geteilte Himmel“, „Kindheitsmuster“ und „Kassandra“ zur bedeutendsten Autorin der untergegangenen DDR wurde, in ihrem letzten Werk. „Ich glaube auch nicht, dass ich noch einmal so ein Buch wie ‚Stadt der Engel’ schreiben werde, das ist mein ‚Lebensmuster’“, sagte Wolf am Mittwochabend (16.6.) in der Berliner Akademie der Künste, die den Andrang kaum bewältigen konnte.
Die Schriftstellerin stellte ihren ersten Roman seit 16 Jahren erstmals der Öffentlichkeit vor. Am Montag (21.6.) erscheint das Buch bei Suhrkamp. 700 Besucher fanden vor und hinter der Bühne Einlass, darunter Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz, Schriftsteller-Weggefährte aus DDR-Zeiten Volker Braun und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse.
Die von Klaus Staeck geleitete Akademie sprach von einer „deutschlandweiten Buchpremiere“. An der Kasse der Akademie im Hansaviertel (im früheren West-Berlin zwischen Schloss Bellevue und Brandenburger Tor) hatten sich lange Schlangen gebildet. Für die sichtlich entspannt wirkende Autorin, die mit einer Gehhilfe auf die Bühne kam, gab es nach der zweistündigen Veranstaltung mit Lesung und Diskussion viel Beifall.
Der Titel des im Suhrkamp Verlages erschienenen Romans „Stadt der Engel“ meint Los Angeles, wohin sich Wolf Anfang der 90er Jahre nach dem Ende der DDR und auf dem Höhepunkt des deutsch-deutschen Literaturstreits für neun Monate zurückgezogen hatte. Das Buch soll ihren Angaben zufolge auch in den USA erscheinen.
Auch der Schriftstellerkollege Ingo Schulze („Simple Storys“), der Direktor der „Sektion Literatur“ der Akademie ist und als Moderator des Abends für den Literaturkritiker Arno Widman eingesprungen war, nannte den Roman Wolfs ein „Lebensmuster“, eine Art Fortsetzung ihres früheren Buches „Kindheitsmuster“. Für ihr neues Buch habe sie sich viel Zeit gelassen, um in großer Offenheit von ihrem Leben in der DDR, deren Ende und auch von ihren Träumen und Albträumen zu erzählen.
Dazu gehöre auch Wolfs umfangreiche Stasi-Akte über ihre jahrzehntelange Bespitzelung in der DDR und auch ihre eigene, von ihr verdrängte kurzfristige Zusammenarbeit mit der Stasi Ende der 50er Jahre als „IM Margarete“. Wolf habe den Mut, sich auch selbst immer wieder in Frage zu stellen, betonte Schulze. „Was zählt, ist der Text zum Beispiel auch über jene Momente, in denen man nicht weiß, wie man die Nacht überstehen soll.“
Die Ausstellung in der Akademie vor einigen Jahren mit Dokumenten aus dem Leben und Werk der Schriftstellerin trug den Titel „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“. Sie zeigte auch die „Spickzettel“ Wolfs für die Verteidigungsrede auf dem legendären SED-Plenum 1965 unter Walter Ulbricht mit dem verheerenden kulturpolitischen Kahlschlag, dem auch Defa-Filme wie „Spur der Steine“ zum Opfer fielen. „Es war die einzige oppositionelle Rede damals“, erinnerte Schulze.
Wolf protestierte mit zahlreichen anderen Autoren auch gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR 1976, „ein Wendepunkt in meinem Leben“, wie sie sagte. Später, im stürmischen deutschen Herbst 1989, war Wolf sogar als erste frei gewählte DDR-Staatspräsidentin im Gespräch. Sie hatte zusammen mit anderen Schriftstellern und Künstlern den Aufruf „Für unser Land!“ unterzeichnet. „Mein Leben in drei Staats- und Gesellschaftsformen in Deutschland treibt mir eine Fülle von Stoff zu, von der ich etwas aufbewahren möchte“, betont die 1929 in Landsberg an der Warthe geborene Autorin. „Es ist, wie so oft bei mir, ein Anschreiben gegen das Vergessen.“
Wolf, die früher auch SED-Mitglied war, liest an dem Abend auch die Passagen des Buches, die ihr Entsetzen dokumentieren, als sie nach dem Zusammenbruch der DDR in der Stasi-Unterlagenbehörde auf ihre sogenannte Täterakte über ihre kurzfristige Stasi-Mitarbeit stieß – nachdem sie die 42 Stasi-Akten ihrer eigenen jahrzehntelangen Bespitzelung durch die Stasi gelesen hatte. „Ich fühlte mich doch völlig unbelastet [...] IM - weißt du, wie das ist, wenn dir zwei Buchstaben wie ein Gerichtsurteil entgegenblicken? […] Das hatte ich vergessen können? [...] IM stand da, ich habe es nicht glauben wollen, Katastrophenalarm, der Schweiß brach aus.“
Dass sie in der DDR trotz allem geblieben sei, habe vielerlei Gründe gehabt, betonte Wolf in der Diskussion. Sie habe vor allem das Gefühl gehabt, in der DDR mehr gebraucht zu werden, „als es wohl in Westdeutschland der Fall gewesen wäre“. In den USA wurde Wolf immer wieder gefragt: „Sie kommen aus Deutschland? Ost oder West? Berlin? Sie haben unter dem Regime gelebt, die ganze Zeit?“
Literaturangabe:
WOLF, CHRISTA: Stadt der Engel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 S., 24,80 €.
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