In Wahrheit wird die Nabelschnur zwischen einer Mutter und ihrem Sohn niemals durchtrennt. Sie wird nur länger mit den Jahren und verwickelt sich im Laufe der Zeit, sie verknotet sich und wird porös an einigen Stellen. Mütter und Söhne hassen sich oder kennen sich kaum oder verletzen sich; sie stehlen oder trinken oder enttäuschen sich. Sie leiden lebenslang aneinander. Sie sind niemals perfekt und ihre Beziehung zueinander mag fleckig und schartig und hier und da auch ausgebessert worden sein: Dennoch werden sie sich immer lieben, sich verbunden fühlen, wenngleich vielleicht auf quälende Weise.
Ihre Liebe mag dunkel und vernebelt sein, anti-erotisch zwar, aber doch von der gleichen Wucht wie eine leidenschaftliche Affäre. Sie mag vollgeladen sein mit Vorwürfen und schwanken unter dieser Last wie ein alter Holzkarren: Dennoch werden sie sich nacheinander sehnen, fühlen, dass es den anderen gibt, selbst wenn Meilen sie trennen, und der Verlust des anderen bleibt immer unvorstellbar.
Colm Tóibín, geboren 1955 im Südosten Irlands, Autor von Romanen und Reisebüchern, Verfasser zahlreicher journalistischer Arbeiten und ausgezeichnet mit diversen Literaturpreisen, analysiert in seinen zehn kurzen Erzählungen, die der Hanser Verlag hier erstmals in deutscher Sprache in dem Sammelband „Mütter und Söhne“ vorlegt, diese so komplexe und sensible Form menschlicher Beziehung. Er spannt dabei den Bogen weit. Die Mütter und Söhne seiner Geschichten lieben sich auf höchst unterschiedliche Arten und ihr Verhältnis zueinander ist immer kompliziert.
Tóibín beschreibt in seinen Erzählungen mögliche Lebensläufe, erdenkt sich Charaktere, und indem er sie voneinander abhängig macht wie in einer Versuchsanordnung, entwickeln sie sich, wobei Berichte eigentümlicher Leben entstehen, Porträts gestörter Seelen, die an Substanz gewinnen, je weiter sich ihre Psyche entschlüsselt. Dabei setzt er seine Figuren neben die Gleise und erforscht ihre Reaktionen auf Unvorhergesehenes. Sie alle geraten an Grenzen und werden auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen, und allesamt müssen sie sich in jenen dunklen und verdrängten Räumen neu orientieren lernen.
Diese Bilder zeichnet Tóibín ruhig und unaufgeregt. Seine Sprache ist klar und ungemein treffend, bisweilen poetisch, handwerklich formvollendet, traditionell auch, aber dennoch weitab von jeglicher Lesebuchmanier und atmosphärisch dicht wie zäher irischer Nebel. Noch mehr als sein psychoanalytischer Forscherdrang ist es am Ende eben jene Stimmung, die Tóibín zu erzeugen vermag, die den Wert dieser Sammlung von Erzählungen ausmacht: Trotz der Kargheit der Szenerien und der zumindest hin und wieder vorhersehbaren Handlung sind jene Gestalten fesselnd, die, anstatt große Geschichten zu erleben, mit den Verstrickungen ihrer Seelen kämpfen.
Nach der Lektüre bleibt man allein zurück, mit dem Gefühl, man habe intime Gespräche belauscht oder fremde Briefe gelesen und heimlich durch geputzte Wohnzimmerfenster und Schlüssellöcher geschaut und kenne von jenen Fremden dort drüben nun Seiten, die sie verborgen halten, ihre verletzlichsten und geheimsten, und man kenne sie nun alle ganz genau, und alle Mütter und Söhne, deren millionenfache Schicksale so oder auch ganz anders sind, zumindest aber genau so sein könnten, und die verbunden bleiben durch jene Nabelschnur, die niemals reißt.
Von Nina Seeger
Literaturangabe:
TÓIBÍN, COLM: Mütter und Söhne. Aus dem Englischen übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2009. 288 S., 19,90 Euro.
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