Von Sophia-Caroline Kosel
MERSEBURG (BLK) – Noch liegen die Werke von Karl Marx, Peter Hacks und Leo Tolstoi in Bananenkisten. Wenn sich der Traum des ehemaligen „Tatort“-Kommissars Bruno Ehrlicher alias Peter Sodann erfüllt, stehen sie eines Tages zusammen mit allen anderen zwischen 1945 und 1990 in den jetzigen neuen Bundesländern erschienenen Büchern in einer Bibliothek – jeweils ein Exemplar pro Titel. Kurz nach dem Fall der Mauer entschied sich der Schauspieler, die literarischen Zeugen der vergangenen Ära vor dem Müll zu bewahren. „Unsere Enkel werden nachfragen“, sagt Sodann, der mit dutzenden Helfern in Merseburg bei Halle (Saale) bislang rund 180.000 Bücher gesammelt hat und noch lange nicht am Ziel ist.
Nur eine halbe Autostunde entfernt von Merseburg waren kurz nach dem Ende der DDR tausende druckfrische Bände auf dem Müll gelandet – zum Entsetzen vieler Buchliebhaber. Die Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft, zu DDR-Zeiten zentraler Bücher-Auslieferer, hatte tonnenweise Bücher auf die Müllhalde gebracht, darunter deutschsprachige Klassiker ebenso wie Tierbildbände, moderne Lyrik oder aufwendig illustrierte Märchenbücher. Nicht nur der Großhandel, auch Privatleute und Bibliotheken trennten sich von bedruckten und gebundenen Hinterlassenschaften der DDR.
In hunderten Werken, die Sodann und sein Team nun in einem ehemaligen Kindergarten in Merseburg sammeln, künden Stempel davon, dass sie in Bibliotheken lagen, die entweder aufgelöst wurden oder sich von ihrem DDR-Bestand getrennt haben. „Wir rechnen damit, dass rund 100 Millionen Bücher aus den Bibliotheken auf dem Müll gelandet sind“, sagt Eberhard Richter, Vorsitzender des „Peter-Sodann-Bibliothek e.V.“. Er staunt immer wieder über das, was beim Verein ankommt. „Uns wurde eine Sammlung von Märchenbüchern angeboten, die war so umfangreich – das konnte ich mir gar nicht vorstellen.“
„Wir rechnen mit Einbrüchen. Kein Bargeld im Haus. Kühlschrank ist leer“, heißt es auf einem Zettel an der Tür des ehemaligen Kindergartens. Drinnen türmen sich dutzende prall mit Literatur gefüllte Bananenkisten. „Dieses Jahr haben wir 50.000 Bücher von Privatleuten bekommen“, berichtet der Vereinsvorsitzende „Vieles kommt von Bundesbürgern, die in der DDR von ihrem Zwangsumtausch-Geld Bücher gekauft haben.“
„Die DDR war ein Leseland: Weil man nicht reisen konnte, wurde gelesen“, sagt Sodann, der einst wegen eines Buchs sogar verhaftet wurde: „Ich hatte mir ‚Die Pest’ von Camus aus dem Westen mitgebracht. Als ich wieder frei kam, erschien es auch in der DDR“, berichtet er. In Merseburg hat der DDR-Bibliotheks-Gründer viele Helfer. 13 Ein-Euro-Jobber sitzen seit März vergangenen Jahres in dem früheren Kindergarten vor Computern und registrieren jedes einzelne Buch.
Rund 350.000 Titel sind Sodanns Schätzung zufolge von Kriegsende bis Mauerfall in DDR-Verlagen veröffentlicht worden. 70.000 sind bislang im elektronischen Katalog erfasst. Sie kommen wieder in eine Kiste und dann in eine Sporthalle in Merseburg, die derzeit als Lager für die katalogisierten Werke dient. Sodann und sein Verein suchen nun nach einem geeigneten Domizil und Spenden für ihre einzigartige Sammlung, die eines Tages auch eine Fundgrube für Wissenschaftler werden soll.