Herding, Klaus; Hollein Max (Hrsg.): Courbet – Ein Traum von der Moderne, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2010. 304 S., 39,80 €, ISBN 978-3775726283.
Von Roland H. Wiegenstein
Gustave Courbet ist hierzulande „kein Thema“, obwohl doch Bilder von ihm in allen großen Museen hängen. Der 1819 geborene (und 1877 gestorbene) Maler gilt abwechselnd als „Romantiker“ und „Realist“ und hätte es nicht vor ein paar Jahren einige Aufregung um den „Ursprung der Welt“ gegeben, jenes „realistisch“, quasi unschuldig-naiv gemalte Bild eines weiblichen Schoßes, das sogar der Philosoph und Psychologe Lacan (der es besaß) hinter einem Vorhang verbarg, er wäre weiterhin „kein Thema“ geblieben. Aber das für den ägyptischen Bey Khalil gemalte „schamlose“ Bild (das heute im Musée d’Orsay hängt – ohne Vorhang!) machte auf den Maler wieder aufmerksam, um den die Diskussion in Frankreich nie verstummt ist: galt er doch Zeitgenossen und Nachfahren seiner Zunft als jemand, der größte Aufmerksamkeit verdient. Cézanne hat mehrfach auf ihn hingewiesen, der zwanzig Jahre jüngere Monet gemeinsam mit ihm an Frankreichs Küsten gemalt und Picasso die „Mädchen an der Seine“ auf seine Weise variiert. In Frankreich hatte er stets viele Bewunderer – und ebenso viele Gegner. Hat er sich doch selbst als „Sozialist“ und „Republikaner“ bezeichnet, an der Pariser Commune aktiv teilgenommen und den Sturz der Vendôme-Säule verlangt. (Die wurde beseitigt und Courbet 1873 zur Wiedergutmachung verurteilt: Er floh in die Schweiz an den Genfer See und ist dort gestorben, ehe die erste Rate der Restitution fällig wurde.)
Patriotischen Franzosen galt der in seiner Zeit berühmte Künstler als Vaterlandsverräter (es gibt zahlreiche Karikaturen, die ihn madig machen), der die Segnungen des Landes in Anspruch genommen habe: Orden bis hin zur „Légion d`honneur“, Teilnahme an den offiziellen jährlichen „Salons“ (die den Impressionisten in aller Regel verweigert wurde), und doch zu den aufsässigen Republikanern übergelaufen!
In Deutschland gab es die letzte große Courbet-Retrospektive 1977, Grund genug, ihm in Frankfurt eine neue, repräsentative auszurichten: „Ein Traum von der Moderne“ heißt sie und die Katalogautoren – abgesehen vom Kurator Klaus Herding, der auch die meisten Bildlegenden geschrieben hat –, meist Franzosen, geben sich alle Mühe, die verschiedenen Aspekte von Courbets vielfältigem Werk zu beleuchten. Was sie vor allem interessiert, das ist nicht der politische Künstler (seinen „Elendsbildern“ gilt nur ein Aufsatz), sondern der Träumer Courbet – der Maler, der in seinen Landschaften und Stillleben etwas malte, das über den „Realismus“ hinausging, ihn dementierte, der in seinen erotisch aufgeladenen Frauenbildnissen (und Akten) die glasklaren Nackten (etwa Ingres oder Proudhons) mit dem Patschuli des fin-de-siecle umgab, ja sogar lesbische Szenen nicht scheute. Diese skandalumwitterten Bilder wirken heute auf eine spezifische Weise „rein.“ Aber die Schau (und der gute Katalog) bilden auch einige jener Tierbilder ab, die so verzweifelt an den „röhrenden Hirsch“ überm Kanapée unserer Vorväter ähneln und die grandiosen Strand- und Wellenbilder, deren Bedrohlichkeit noch heute Eindruck macht. Courbet, ein Zeitgenosse (und oft Freund oder mindestens Gefährte) der Impressionisten stand gleichwohl „dazwischen“, der Ältere war in der Schule der Romantiker groß geworden, zwischen Delacroix und Manet. Dass er gleichwohl ein großer Meister war, das zeigen vor allem (neben einigen Landschaften) seine Porträts: hoch sensible, genaue Psychogramme, in der zwischen dem minutiös gemalten Inkarnat und der eher summarischen Behandlung des Hintergrunds eine malerische Kluft sich auftut, die die Abgebildeten umso intensiver ins rechte Licht setzt. Und wenn es im Selbstporträt wäre. Der junge Mann, der sich mit aufgerissenen Augen am Abgrund darstellt oder gar sein Selbst durch eine am roten Bande hängende Pfeife ersetzt (Magritte lässt grüßen) und all diese anderen genialischen jungen Männer, mit Cello oder anderen Accessoires, haben so gar nichts zu tun mit dem dicklichen Mann, der uns vor der Staffelei in Fotos anblickt, die unvermeidliche Pfeife im Mund, als der er dann auf Fotos in späteren Jahren erscheint; denn er selbst scheint sich nicht mehr gemalt oder gezeichnet zu haben, das haben die Karikaturisten für ihn erledigt.
Über die Qualität von Courbets Bildern kann es wenig Zweifel geben und viele „überstehen“ das zeitgebundene Klima mühelos. Mindestens Zweidrittel der ausgestellten und gut reproduzierten Werke lohnen die intensive Beschäftigung und zeigen ihn wirklich als Vorläufer der Moderne, die noch zu seinen Lebzeiten aufbrach. So Herding: „Er war einer der großen Träumer der Geschichte. Seine Porträts zeigen oft einen träumerischen Hang zur Introspektion, Landschaftsbilder stellen entlegene Fels- und Waldgebiete vor, Jagdbilder sprechen von Identifikation mit dem Opfer, Stilleben führen uns in eine verwunschene Welt, in der die Maßstäbe der Außenwelt nicht mehr gelten.“ Das mag ein wenig übertrieben sein, Courbet hat sich selbst als „Realisten“ betrachtet: Es eröffnet gleichwohl einen neuen Zugang zu einem Meister, den die Moderne so gnadenlos überholt hat. Werner Hofmann hat gewiss recht, wenn er schreibt: „Ungeachtet seines programmatischen Realismus hat Courbet die nachdenkliche Weite und Vielschichtigkeit bewahrt, die als romantisch gilt – Reste einer ‚Gedankenmalerei’ aus der sich die Pleinairisten entschieden zurückzogen.“
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Courbet, der Freund Baudelaires, hat noch seine „Elendsbilder“ einer agrarischen Gesellschaft entnommen – die Großstadt, die viele Impressionisten so faszinierte, blieb ihm fremd.
Leider sind in den Texten immer wieder dem Fach der Kunsthistoriker eigene Stilblüten wie diese stehen geblieben: „In seiner bildfüllenden Präsenz und seinen Farbabbreviaturen ist die Ölstudie (es handelt sich um eine Studie zur ‚Frau mit Papagei’) für den heutigen Betrachter ebenso eindrucksvoll wie das große Gemälde, nimmt als Teilstück eines Körpers wie in ‚Der Ursprung der Welt’ auch eine surreale Anmutung an.“ Nun ja. Es ist einfach ein wunderschönes, erotisch aufgeladenes Bild.
Courbet ist mit dieser Ausstellung (und diesem Katalog) hierzulande wieder ins zeitgenössische Bewusstsein gerückt. Und das ist ein Verdienst.