Von Andreas Heimann
Für die meisten Deutschen kam die Krise an den Finanzmärkten unerwartet. Aber sie kam nicht über Nacht. Auch wenn sich so mancher überrascht die Augen rieb, als gleich mehrere der renommiertesten Investmentbanken im Herbst 2008 ins Trudeln gerieten und die Börsenkurse abstürzten, der „Crash des Kapitalismus“, wie Ulrich Schäfer es nennt, hatte eine Vorgeschichte.
Der Autor erzählt sie in seinem lesenswerten Buch, das diesen Titel trägt. Wenn in Krisenzeiten bedrohliche Entwicklungen beschworen werden, sind steile Thesen schnell zur Hand. Aber Ulrich Schäfer argumentiert überlegt und gut begründet, auch dann, wenn es dramatisch klingt: „Das Börsenbeben vom Herbst 2008 war schlimmer als alles, was die Finanzmärkte seit der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben.“ Der studierte Volkswirt und Wirtschaftsjournalist sieht diese Entwicklung als Anzeichen „einer spektakulären Zeitenwende“ und eines „historischen Umbruchs, der womöglich noch dramatischer ist als jener nach dem 11. September 2001“.
Sie hat nicht eine, sondern viele Ursachen. Ulrich Schäfer zeichnet das detailreich und überzeugend nach. In der globalen Wirtschaft hängt schließlich alles mit allem zusammen: „die Börse in Schanghai mit der in New York, die amerikanischen Immobilienkredite mit deutschen Spareinlagen, der Job in Vietnam mit dem in Berlin oder Bayern“. Und so legt der Autor viel Wert darauf, den wirtschaftlichen Abwärtstrend nicht mit Verfehlungen einzelner zu erklären: Seine Kritik gilt den Steuerflüchtlingen, die ihr Vermögen ins Ausland schaffen genauso wie den Staaten, die um sie werben.
Die zunehmend ungleiche Verteilung von Vermögen in Deutschland hält er für ebenso bedenklich wie das Schrumpfen der Mittelschicht. Und er macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass es schließlich noch ganz andere Probleme gibt, auch wenn das zur Zeit in den Hintergrund tritt: das absehbare Ende der fossilen Brennstoffe zum Beispiel. Was sein Buch außerdem auszeichnet, ist die historische Perspektive – inklusive mehrerer Exkurse über die Geschichte der Wirtschaftstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg von John Maynard Keynes bis Milton Friedman.
Dass der Crash nicht aus dem Nichts kam, lässt sich am Beispiel der beiden größten Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac zeigen: Als sie im September 2008 implodierten, war das nur der Höhepunkt einer wahnwitzigen Entwicklung auf dem amerikanischen Immobilienmarkt: Bereits im Spätherbst 2006 hatte das „Platzen der Blase“ zu einem Einbruch der Immobilienpreise geführt. Kein Wunder, nachdem jahrelang Drückerkolonnen der Hypothekenbanken durch die Städte gezogen waren und Kredite verramscht hatten. Oft bekamen die Kunden den Tipp, ihr Einkommen einfach zu fälschen. Die einen bekamen einen Kredit, den sie sich gar nicht leisten konnten, die anderen eine schnelle Provision.
Schäfers Positionen sind erfreulich eindeutig. Seine Hauptkritik gilt der „entfesselten Marktwirtschaft“, die nach seiner Überzeugung die soziale längst abgelöst hat. „Der Staat und seine demokratisch gewählten Politiker haben sich in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten zurückgezogen und das Feld den Marktkräften überlassen, den nicht gewählten Herrschern der Konzerne und Banken.“
Diese Entwicklungen seien nicht nur bedrohlich für die Weltwirtschaft: Weil sich immer mehr Menschen von der Marktwirtschaft abwendeten, verliere auch die Demokratie an Rückhalt. Das politische System droht zu erodieren. „Der Kapitalismus, der unser Leben geprägt hat, steht am Abgrund“, lautet Schäfers Bilanz. „Die Wirtschaft, wie wir sie kennen, ist im Herbst 2008 untergegangen. Die Welt wird künftig eine andere sein.“ Das ist nicht das Ende der Geschichte. Es wird sich eine andere Marktwirtschaft entwickeln, ist Schäfer überzeugt – vielleicht sogar eine sozialere. „Das jedenfalls ist zu hoffen.“ Die meisten Leser sehen das sicher auch so.
Literaturangaben:
SCHÄFER, ULRICH: Der Crash des Kapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009. 326 Seiten, 19,90 €.
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