Michael Cunningham: In die Nacht hinein. Roman. Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 320 Seiten. 19,99 €.
Von ANGELO ALGIERI
Mit dem Roman „Die Stunden“ („The Hours“) wurde der us-amerikanische Autor Michael Cunningham 1998 schlagartig bekannt. Der Roman erzählt die Geschichte dreier Frauen unterschiedlicher Generationen, in deren Leben Virginia Woolfs Roman „Mrs. Dalloway“ eine wichtige Rolle spielt. Der 1952 in Cincinnati geborene und in New York lebende Cunningham wurde für diesen Roman mit vielen Preisen geehrt, darunter mit dem Pulitzer Prize for Fiction im Jahr 1999. Weitaus größere Bekanntheit erlangte jedoch die kongeniale Verfilmung des Romans mit Nicole Kidman, Meryl Streep und Julianne Moore in den Hauptrollen. Nicole Kidman erhielt für ihre Rolle 2003 den Oscar für die beste Hauptdarstellerin.
Cunninghams Nachfolgeroman „Helle Tage“ („Specimen Days“), der in Deutschland 2006 erschien, wurde von der Kritik weitgehend verrissen. Als Bindeglied zwischen drei Jahrhunderten fungiert in diesem Buch die Lyrik Walt Whitmans. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ meinte zu recht: „furchtbar kitschig“.
In Cunninghams neuem Roman „In die Nacht hinein“ („By Nightfall“), wie die vorherigen Romane im Luchterhand Literaturverlag erschienen, läutet schon das voran gestellte Motto die Hauptthemen ein: Schönheit und Vergänglichkeit – das Zitat stammt von Rainer Maria Rilke: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.“ Wer diese Schönheit ist, die den schrecklichen Anfang anstößt, erläutert dann der erste Satz: „Das Missgeschick will kommen und eine Weile bleiben.“ Missgeschick, oder in der Kurzform: Missy, ist der Spitzname von Ethan, der gutaussehende 23-jährige Bruder von Rebecca. Er heißt so, weil er kein Wunschkind war und die Mutter trotz abgeklemmter Eierstöcke schwanger geworden ist. Durch Missys Erscheinen werden die Eheleute Peter und Rebecca Harris sich nach und nach ihrer Illusionen und Wünsche bewusst.
Doch eins nach dem anderen: Der Protagonist Peter Harris, 44, ist Kunstgalerist und lebt mit seiner 41-jährigen Frau Rebecca seit 21 Jahren zusammen. Sie ist Redakteurin eines Kunstmagazins und stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sie leben in New York, Downtown Manhattan, in einem geräumigen Loft. Sie gehen auf Partys, um Kontakte zu pflegen, und verbringen meist ihre Sonntage zusammen, da sie sich wochentags selten sehen. Alles geht in dieser Ehe seinen gewohnten Gang, das Paar glaubt glücklich zu sein – auch wenn die erwachsene Tochter Beatrice ihre Erwartungen enttäuscht, weil sie, statt das College zu besuchen, in einer Hotelbar in Boston arbeitet.
Doch dann taucht eines Apriltages besagtes Missgeschick auf. Peter trifft seinen Schwager unerwartet im Badezimmer beim Duschen an. Er glaubte, seine Frau sei im Bad, und ist beim Anblick des nackten Mannes irritiert, schließt die Duschkabinentür wieder, beobachtet aber noch die Silhouette des fremden Körpers: der Beginn einer homoerotischen Anziehung, die Peter sich nicht erklären kann. Bei jeder weiteren Begegnung verfällt Peter dem schönen Jüngling immer mehr. Etwa als er nachts eine Schlaftablette nehmen will und Missy nackt in der Küche steht, oder als Peter Missy hört, wie er masturbiert.
Peter ist so vernarrt in Missy, dass er obsessive Gedanken hegt, als er mit seiner Frau im Bett liegt:
„Er will es nicht, weil, sag es, weil er Missy besitzen will, so wie er Kunst besitzen will. Er will Missys scharfen, vermurksten Verstand, er will seine Selbstzerstörung und er will sein … Wesen hier haben, ganz und gar hier, er will nicht, dass er es an jemand anderen vergeudet, erst recht nicht an ein Mädchen, das ihm etwas geben kann, was Peter nicht geben kann. Missy wird – Peter ist nicht blöde, er ist verrückt, aber nicht blöde – sein Lieblingswerk, ein Performance-Stück, wenn man so will, und Peter möchte ihn sammeln, er möchte sein Meister und sein Vertrauter sein (...) aber er möchte Missy kuratieren, er möchte sein einziger sein … sein Einziger sein.“
Man fühlt sich an Gustav von Aschenbach und Tadzio erinnert, aus Thomas Manns „Tod in Venedig“. Beide Verehrer verbindet der ästhetische Sinn und das begehrliche Nachgeben.
Schließlich kommt es aber, wie es im 21. Jahrhundert kommen muss: Peter und Missy küssen sich am Strand, in der Nähe der Farm einer Klientin von Peter. Missy gesteht ihm seine Liebe, doch Peter blockt zunächst ab. Am darauffolgenden Morgen ist Missy verschwunden. Wenig später ruft er Peter an. Sie treffen sich, um zu reden. Auf dem Weg zu ihm ist Peter bereit, für Missy alles aufzugeben und mit ihm durchzubrennen. Zu Peters Enttäuschung stellt sich während des Gesprächs aber heraus, dass Peter von Missy an der Nase herumgeführt wurde. Missy will Peter mit dem Kuss erpressen. Als Peter nach Hause kommt, weckt er seine Frau und bemerkt, dass etwas nicht stimmt: Rebecca will sich, zu Peters Erstaunen, von ihm scheiden lassen. Sie glaubt, nicht glücklich zu sein. Doch Peter bewegt sie durchzuhalten.
Michael Cunningham zeigt sehr treffend, dass Missy die Projektionsfläche für verborgene Wünsche und verpasste Gelegenheiten ist. Für Peter symbolisiert er die Schönheit sowie die Vergänglichkeit von Schönheit. Seine Homoerotik ist letztlich das Begehren des Schönen – wie bei einem Kunstwerk. Hier knüpft Cunningham thematisch an Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ an. Peter vermisst die einstige Schönheit Rebeccas, die er nun in Missy sieht. Zugleich ist Missy auch Tochterersatz und die Erinnerung an seinen an AIDS verstorbenen schwulen Bruder. Rebecca ihrerseits sieht in Missy den ersehnten Erlöser ihrer Beziehung zu ihrem Mann Peter: „Ich dachte, wenn ich Missy glücklich machen könnte, würde etwas Wunderbares geschehen.“
Der besondere Spaß an diesem Roman ist es, dass der Erzähler Peters Handlungen kommentiert und den Leser so zu seinem Komplizen macht. Etwa, wenn er von Peters Eltern berichtet und den Leser direkt anspricht: „Ja, Leser, sie heiratete ihn“. Des Weiteren wechselt der Rhythmus der Erzählung: Die äußeren Handlungen werden schnell skizziert, während Gedanken oder Erinnerungen breiteren Raum einnehmen. Cunningham versteht es, auf diese Weise Spannung zu erzeugen, auch weil er Übertreibungen und ironische Elemente in die Erzählung einfügt.
Der Roman unterscheidet sich von Cunninghams vorherigen Büchern dadurch, dass er auf den Wechsel zwischen verschiedene Generationen oder Jahrhunderte verzichtet. Er spielt in der Jetztzeit und verknüpft lediglich Peters Erinnerungen mit der Gegenwart. Am befürchteten Liebesgeschichten-Kitsch schrammt Cunningham haarscharf vorbei, denn es gelingt ihm, mit dem Genre zu spielen und es zu ironisieren.
Der äußerst belesene Cunningham verweist auf viele Motive und Zitate der homoerotischen Literaturgeschichte: Neben den bereits erwähnten Anspielungen auf Thomas Mann und Oscar Wilde finden sich auch Verweise auf E. M. Forsters Erzählung „Arthur Snatchfold“ (Ein älterer Geschäftsmann trifft auf einen jungen Milchmann …), auf Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“ (Verfall einer einstigen wohlhabenden Schicht, Verdrängung) und auf Dantes Beatrice aus der „Göttlichen Komödie“ – Sinnbild für das keusche Begehren des unerreichbaren Schönen. Es bereitet beim Lesen Freude, die intertextuellen Bezüge zu erkennen. Bisweilen scheint der Text mit Zitaten überfrachtet zu sein, jedoch ist diese Reichhaltigkeit für Cunninghams Vorhaben geradezu obligatorisch, denn mit „In die Nacht hinein“ hat er eine Hommage an das Schöne geschrieben und verbeugt sich so vor einer großen Tradition in der Literatur; sozusagen – in Anlehnung an Thomas Mann – eine moderne Aschenbachiade!