Ein Mann namens Daniel Stein rettete das Leben hunderter Juden und Kommunisten. Daniel Stein überlebte auch drei Todesurteile. Er haderte mit Gott und gab sich zugleich vertrauensvoll in dessen Hände. Daniel Stein erweckte die hebräische Urkirche zu neuem Leben und starb am Ende unter mysteriösen Umständen. Wer war dieser Daniel Stein? Ljudmila Jewgenjewa Ulitzkaja versucht eine Annäherung als Roman.
Nach dem Verfassen ihres neuen Romans „Daniel Stein“ wurde die russische Schriftstellerin von ihrem Sohn gefragt, ob ihr klar sei, dass sie mit der Veröffentlichung dieses Buches ihre schriftstellerische Karriere zu Grabe trage? „Nach diesem Buch kannst Du höchstens noch über Katzen und Hunde schreiben“, zitiert Ulitzkaja schmunzelnd selbst ihren Sohn bei der Vorstellung des Buches in Berlin. Dabei könne sie ihn gut verstehen, denn auch sie habe sich vor drei Jahren, als der Roman in Russland erschien, gefragt, was nach diesem Buch noch kommen könne. „Ich hatte in der Tat das Gefühl, alles gesagt zu haben, was ich im Leben jemals sagen wollte“, gestand die 66-Jährige Russin im Betsaal des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Berlin Pankow. Aber das sei ihr nach jedem ihrer Romane so gegangen, schiebt sie eilig nach.
Nach der Lektüre dieses epochalen Werkes kommt die Frage nach dem Danach unweigerlich auf. Was soll man noch schreiben, wenn es gelingt, ein ganzes Jahrhundert auf knapp 500 Seiten einzuschmelzen? Wozu noch Fragen stellen, wenn die großen Rätsel nun wie in Blei gegossen in diesem Roman stehen? Nun, es gebe ja auch noch die kleinen großen Fragen, die Fragen der Kinder zum Leben und zur Welt. Mit diesen befasst sie sich derzeit und arbeitet an einer Art russischer Kinder-Uni.
In ihrem neuen Roman lässt Ljudmila Ulitzkaja das 20. Jahrhundert vor unseren Augen noch einmal Revue passieren, ein Jahrhundert voller Schrecken und Gräuel, Ideologien und Doktrinen. Aber auch ein Jahrhundert der Hoffnungen und Entwicklungen, Wandlungen und Richtungsänderungen, der Annäherung und Versöhnung. Dieses vorwiegend europäische Jahrhundert bildet in „Daniel Stein“ die Kulisse für eine Verarbeitung eines einzigartigen Lebens. Dem von Oswald Rufeisen, eines Vermittlers zwischen den Völkern und Religionen, das den biografischen Rahmen für ihre Romanfigur Daniel Stein bildet.
Ulitzkaja lernte den polnischen Juden und später zum Katholizismus konvertierten „Bruder Daniel“ 1992 selbst kennen und geriet in den Bann seines ergreifenden Lebens. Sie war fasziniert von dieser Biografie, die so einzigartig und verrückt ist wie kaum eine andere. Rufeisens Erlebnisse übertreffen viele der außergewöhnlichen und unfassbaren Überlebensgeschichten der europäischen Juden. Er wird 1922 in der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Region zwischen Ostrau und Krakau geboren. Als die Ostfront der deutschen Armee 1939 das Gebiet erobert, flieht er mit seiner Familie ins galizische Lemberg. Lemberg ist damals noch von der russischen Armee besetzt, deren Judenpogrome noch nicht begonnen hatten, so dass die Familie zunächst einigermaßen sicher ist.
Mit der Einnahme der Stadt durch die deutsche Armee zerbricht jedoch die Familie. Die Eltern werden verhaftet und 1942 in Auschwitz ermordet, sein Bruder flieht nach Palästina. Und Oswald Rufeisen? Er versucht sein Glück noch weiter im Osten, in Weißrussland. Rufeisen arbeitet zunächst als Deutschlehrer und Dolmetscher für die lokalen Behörden. Er spricht inzwischen zahlreiche Sprachen, darunter Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und einige slawische sowie eine Handvoll Dialekte. Als die deutsche Armee das Gebiet einnimmt, kann er sich aufgrund seiner tadellosen Deutschkenntnisse als Pole deutscher Abstammung ausgeben und dem sicheren Tod entrinnen.
Rufeisen wird gezwungen, als Dolmetscher für die Gestapo zu arbeiten. In dieser Zeit gelangt er immer wieder an geheime Informationen zu „Aktionen“ gegen die jüdische Bevölkerung oder einzelne politische Gruppen und verhilft zahlreichen Menschen zur Flucht. Als er von einer geplanten „Räumungsaktion“ (der nationalsozialistische Euphemismus für die Ermordung aller in einem Ghetto lebenden Menschen) des jüdischen Ghettos in der weißrussischen Stadt Mir erfährt, organisiert er die Flucht von zwei- bis dreihundert Juden in die umliegenden Wälder. Ein Erweckungserlebnis für Rufeisen und auch in Ulitzkajas Roman, denn mit einem fiktiven Bericht aus dieser Zeit beginnt er.
Rufeisen hat Glück im Unglück. Schon zum Tod durch Erschießen verurteilt, lässt ihn sein Vorgesetzter fliehen. Noch auf der Flucht hört er die Maschinengewehrsalven, die den im Ghetto verbliebenen Juden gelten. Er flieht in ein angrenzendes Nonnenkloster und beginnt, an seinem jüdischen Gott zu zweifeln. Rufeisen durchlebt seine persönliche Theodizee, sein ganz eigenes Damaskuserlebnis. Er liest das Neue Testament, beginnt sich mit Jesus Christus zu beschäftigen und wendet sich diesem Gott der Leidenden, „diesem Mann voll Glauben an Gott und sich selbst, bereit, das Kreuz auf sich zu nehmen“, zu. Noch im Kloster lässt er sich taufen und flieht anschließend, um die Nonnen nicht in Gefahr zu bringen.
Russische Partisanen nehmen den in deutscher Uniform gekleideten und mit unendlich vielen Heiligenbildchen behangenen Rufeisen fest. Auch sie haben schon seinen Tod beschlossen, als sich Juden aus Mir für ihn aussprechen und er erneut verschont wird. Seite an Seite kämpft er nun gegen die deutschen Soldaten.
Nach dem Krieg dolmetscht Rufeisen dann für den stalinistischen Geheimdienst, bevor er – aufgrund eines weiteren Todesurteils gegen ihn – nach Polen flieht. Dort ist er einer von zwei Bewerbern für den einzigen Platz in einem Karmeliterkloster. Rufeisen findet als „Bruder Daniel“ Aufnahme. Der damals schon zum Priester geweihte Karol Woytila (der spätere Papst Johannes Paul II.) hatte das Nachsehen. 1952 erhält Rufeisen die Priesterweihen und 1959 beginnt sein zweites Leben als Pater Daniel in seiner jüdisch-christlichen Heimat Israel.
Und auch dort ist sein Schicksal alles andere als gewöhnlich. Da er sich in seinen Einreisedokumenten auf seine katholische Konfession beruft, wird ihm die Staatsbürgerschaft gemäß dem Heimkehrergesetz verweigert. Rufeisen erwägt eine Klage. Als der israelische Justizminister davon hört, bietet er ihm persönlich an, die Angelegenheit in seinem Interesse zu regeln. Doch Rufeisen will Gerechtigkeit für alle. Wieder ordnet er sein Schicksal dem anderer unter. Die israelische Staatsbürgerschaft soll für alle als Juden Geborene unabhängig von ihrer aktuellen Konfession vergeben werden, fordert er und klagt dafür vor Israels Oberstem Gerichtshof. Dieser wies 1962 seine Klage ab. Sein katholischer Glaube und sein Jüdisch-Sein gingen nicht zusammen, so die Argumentation. Rufeisen erhält dennoch die israelische Staatsbürgerschaft, aber nach dem neuen Einwanderungsrecht. Nicht als Rückkehrer.
Israel sollte seine Heimat bleiben bis zu seinem Tod 1998. Hier lässt er die Urgemeinden nach christlich-jüdischem Vorbild wieder entstehen. In einzigartiger Weise betreibt er den Dialog zwischen der christlich-katholischen und der jüdischen Konfession. „Ich habe einen Auftrag von Gott empfangen: die Kirche in Israel, in der hebräischen Sprache und Kultur wieder zu rehabilitieren, ihren Platz in der Gesamtkirche wieder einzunehmen, diese Gesamtkirche wieder mit ihrer Wurzel zu verbinden.“
Rufeisen blieb bei seinen Bemühungen stets Polarisierer, scheute nie den Konflikt, ebenso wenig wie den Kontakt. Vielen Christen galt er als zu jüdisch, vielen Juden als zu christlich. Bis zu seinem Tod war Oswald Rufeisen alias Pater Daniel in Israel umstritten, aber auch geliebt. Seine innere Heimat war die hebräische Kirche, das Haus Israel. Sein Ziel war bis zuletzt, einen Beitrag zur Wiedervereinigung der Kirchen zu leisten.
Eine geradezu wahnwitzige Idee ist es, dieses Leben in einen Roman zu übertragen. Wer soll diesen Roman lesen und sich damit einer Fiktion hingeben, die sich eigentlich gegen jede auch nur denkbare Realität sperrt? Ein Gedanke, der wohl auch Ljudmila Ulitzkaja umtrieb, denn einen Roman hatte sie anfangs nicht beabsichtigt. Sie wollte zunächst einen Film drehen, wohl um der absurden Geschichte ein echtes Gesicht geben zu können. Diese Pläne verliefen aber im Sand. Mitte der neunziger Jahre sollte sie ein Sachbuch über Oswald Rufeisen ins Russische übersetzen, doch sie erkannte „Pater Daniel“ darin nicht wieder. Daraufhin bat sie die Autorin, der russischen Ausgabe ein Vorwort und Kommentare hinzufügen zu dürfen. Diese antwortete ihr daraufhin beleidigt, dass sie doch ein eigenes Buch schreiben solle, wenn ihr das vorliegende nicht gefalle.
Ein schlagendes Argument, so dass Ulitzkaja die Übersetzung fallen ließ und sich zunächst an das Schreiben eines besseren Sachbuches machte. Dies scheiterte zweimal; an der Fessel der dokumentarischen Wahrheit, wie sie selbst sagt. Literarische Wahrheit, das wäre kein Problem für die Roman- und Theaterstückautorin gewesen. Aber eine spannende Präsentation historisch-dokumentarisch-biografischer Tatsachen ohne die geringste Abweichung zugunsten der Dramaturgie, das gelang Ulitzkaja nicht. In ihr reifte der Entschluss, den Roman zu schreiben, den wir jetzt in den Händen halten können.
In diesem setzt die russische Schriftstellerin das Leben und Wirken ihrer fiktiven Romanfigur „Daniel Stein“ mithilfe ganz unterschiedlicher Stimmen zusammen, als sei es ein großes Puzzle. Aus diesen Meinungen und Berichten entsteht ihr Titelheld Daniel Stein, der keinesfalls mit Oswald Rufeisen identisch sei, schreibt Ulitzkaja in ihrem Vorwort. „Die Biographie meiner literarischen Figur allerdings ist fast identisch mit der ihres realen Vorbilds. Der historische Rahmen entspricht ungefähr, die Personen hingegen sind verändert.“
Die Freiheit des Romans gab der russischen Autorin die Möglichkeit, zahlreiche Menschen aus ihrem Umfeld in den Roman einzubringen. Diese hat sie als charakterliche und biografische Vorbilder für ihre zahlreichen Figuren im Roman herangezogen. So entsteht ein Kaleidoskop aus historischen Personen und Dokumenten, versetzt mit fiktiven Komponenten und fiktiven Existenzen, denen sie wiederum historisch verbriefte Eigenschaften und Ereignisse zuschreibt. Daneben stehen noch unverfälschte Briefwechsel und Interviews der Autorin mit Menschen, die in einem engen Verhältnis zu Pater Daniel standen.
Dieses Potpourri an Echtem und Fiktiven findet in Ulitzkajas Roman im Leben Daniel Steins zusammen. Neben solch engen Vertrauten wie seinem Vater Elias und seinem Bruder Avigdor Stein kommen ebenso selbstverständlich Widersacher wie Naum Bauch (er entlarvte ihn als Fluchthelfer im Ghetto) oder Major Adolf Reinhold (sein deutscher Vorgesetzter) zu Wort. Eine entscheidende Rolle nimmt auch Ewa Manukjan ein, die Tochter einer Überlebenden des Emsker Ghettos. Sie verdankt Daniel Stein im Roman indirekt ihr Leben. Sie selbst und nahezu die gesamte Familie nebst Ex-Männern und Freunden erzählen von einschneidenden Erlebnissen in ihrem Leben und fügen dem Bild Daniel Steins entscheidende Details hinzu. Natürlich kommen auch zahlreiche Glaubensbrüder und -schwestern in diesem Roman zu Wort. Sie veranschaulichen vor allem die Dimension des Glaubens und Zweifelns des jüdisch-katholischen Paters, stellen aber auch die verschiedenen Schismen und innerkirchlichen Konflikte dar.
Ljudmila Ulitzkaja präsentiert zugleich das Leben dieser verschiedenen und voneinander unabhängigen Personen mit all ihren Sorgen, Mühen und Hoffnungen. Dabei bilden zum großen Teil intime Dokumente, wie Briefe, Tagebucheinträge, biografische Rückblicke, Erinnerungen und Selbstgeständnisse, die Grundlage, aus denen jeweils ein Stück Geist Daniel Steins emporsteigt. Daneben ergänzen Auszüge aus Biografien, Telegramme, Akten und Zeitungsausschnitte die Collage, aus der zunehmend ein einheitliches Bild dieses außergewöhnlichen Paters entsteht.
Das Buch wirkt an mancher Stelle zu voll, zu überlastet mit den vielen Lebensgeschichten und Schicksalen. Aus diesem Sammelsurium an echten und fiktiven Dokumenten muss, nein kann, nein darf der Leser die Informationen zu Daniel Stein im wahrsten Sinne des Wortes herauslesen. Die Lektüre von „Daniel Stein“ ist trotz der informativen Dichte alles andere als eine Zumutung. Sie ist eine Herausforderung. Ja, das in jedem Fall. Aber sie ist zugleich auch eine Genugtuung, eine Wohltat. Dieses Buch ist bereichernd, ohne zu belehren. Ergreifend, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Intim, ohne zu nahe zu treten. Und bei all dem zutiefst menschlich.
Für dieses Buch, das schon jetzt als der wichtigste Roman Ulitzkajas gilt, erhält sie den diesjährigen Aleksandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Deutschland und Russland. Außerdem hat sie es mit „Daniel Stein“ auf die Shortlist des Man Booker International Prize geschafft, u. a. neben Joyce Carol Oates, Edgar Lawrence Doctorow und Alice Munro. Bereits 2007 gewann Ulitzkaja mit dem Buch den russischen Literaturpreis Bolshaya Kniga (dt. Großes Buch).
Der russischen Schriftstellerin ist mit „Daniel Stein“ ein ergreifender Roman über einen faszinierenden Menschen gelungen, in dessen Mittelpunkt eine Frage steht, die bis heute unbeantwortet ist: Warum misst sich die Menschheit unter Anwendung sowohl massivster als auch subtilster Gewalt an ihrem Glauben, sei er religiöser oder politischer Art?
Ulitzkajas Jahrhundertroman wendet sich in der Reflexion des Lebens Oswald Rufeisens gegen Totalitarismus jedweder Art. Dabei bildet der Roman ein Panoptikum des jüdischen und israelischen Schicksals im 20. Jahrhundert, angefangen bei der Flucht aus dem osteuropäischen Ghetto bis hin zur Ermordung Yitzak Rabins durch einen radikalen Siedler.
Um Pater Daniels Schicksal ordnet Ulitzkaja die innerkirchlichen Konflikte und Strömungen an und schließt so den Spannungsbogen wieder zu seiner realen Vorlage. Rufeisen selbst vermochte die Glaubensdogmen seiner unmittelbaren multireligiösen Umwelt – Israel als Ursprung der Weltreligionen ist mit quasireligiösen Splittergruppen und Heilssekten bis an den Rand gefüllt – nicht aufzulösen. Dies zeigen die Ereignisse nach seinem Tod. 1998 kam er bei einem Verkehrsunfall um, von dem man sagt, dass er vermutlich ein getarntes Attentat gewesen sei. Anschließend fand Rufeisen weder auf einem jüdischen noch auf einem christlichen Friedhof seine letzte Ruhestätte. Beides wurde ihm von den Kirchenoberen verweigert. Oswald Rufeisen wurde schließlich auf einem kleinen arabischen Friedhof in der israelischen Hafenstadt Haifa beigesetzt.
Ljudmila Ulitzkajas Roman „Daniel Stein“ ist keineswegs einfach nur eine romaneske Biografie eines Rufeisen-Alter-Ego. Er ist viel mehr als das. Er ist ein wirklich großes Buch, das bleiben wird. In einer wahrlich großartigen Übertragung ihrer erfahrenen Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt.
Literaturangabe:
ULITZKAJA, LJUDMILA: Daniel Stein. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Hanser Verlag, München 2009. 496 S., 24,90 Euro.
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