MÜNCHEN (BLK) – Charlotte Links Roman „Das andere Kind“ wurde im August 2009 vom Blanvalet Verlag veröffentlicht.
Klappentext: In der beschaulichen nordenglischen Küstenstadt Scarborough wird eine Studentin grausam erschlagen aufgefunden. Monatelang tappen die Ermittler im Dunkeln - dann geschieht ein ähnliches Verbrechen. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Opfern ist dennoch kaum herzustellen. Die ehrgeizige Polizistin Valerie Almond klammert sich an das allzu Offensichtliche: an ein Zerwürfnis innerhalb der Familie des zweiten Opfers. Lange Zeit ist ihr der Blick jedoch verstellt für das Gift, das in dieser Familie wirkt, und dessen Ursprung sie bis weit in die Vergangenheit hinein zurückverfolgen müsste. Bis hin zu einer grausamen Entdeckung an einem kalten Dezembertag vor dreißig Jahren. Und sogar bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs, als ein Kind auf geheimnisvolle Weise verschwand.
Charlotte Link, geboren 1963 in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre psychologischen Spannungsromane, zuletzt „Das andere Kind“, sind internationale Bestseller. Allein in Deutschland wurden bislang rund 15 Millionen ihrer Bücher verkauft; sie sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die TV-Verfilmungen, u. a. „Das Haus der Schwestern“ und „Die Rosenzüchterin“, werden vom ZDF mit jeweils sehr hohen Einschaltquoten ausgestrahlt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main. (olb)
Leseprobe:
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Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden musste. Dass sie in Gefahr schwebte und dass sie verloren war, wenn die Leute, die auf dem einsamen Hof lebten, auf sie aufmerksam wurden. Der Mann stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr, gerade als sie am Hoftor ankam und sich eilig auf den Weg hinunter zu ihrem Auto machen wollte. Er war groß und nicht so ungepflegt, wie man es von dem Bewohner eines so heruntergekommenen Gehöfts erwartet hätte. Er trug Jeans und einen Pullover. Seine grauen Haare waren sehr kurz geschnitten. Er hatte helle Augen, in denen nicht die Spur eines Gefühls zu erkennen war. Semira konnte nur hoffen, dass er sie nicht hinter den Stallgebäuden gesehen hatte. Vielleicht hatte er ihr Auto entdeckt und kam nun, um nachzuschauen, wer sich hier herumtrieb. Ihre einzige Chance bestand darin, ihm Harmlosigkeit und Unbefangenheit überzeugend vorzuspielen, und das, obwohl ihr Herz jagte und ihre Knie zitterten. Ihr Gesicht war feucht von Schweiß, trotz der beißenden Kälte des bereits dämmrigen Dezembernachmittags. Seine Stimme war so kalt wie seine Augen. „Was tun Sie hier?“ Sie probierte ein Lächeln und hatte den Eindruck, dass es zittrig ausfiel. „Gott sei Dank. Ich dachte schon, hier ist niemand …“ Er musterte sie von oben bis unten. Semira versuchte sich vorzustellen, was er sah. Eine kleine, dünne Frau, keine dreißig Jahre alt, warm verpackt in lange Hosen, gefütterte Stiefel, einen dicken Anorak. Schwarze Haare, schwarze Augen. Dunkelbraune Haut. Hoffentlich hatte er nichts gegen Pakistanis. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass er eine Pakistani vor sich hatte, die meinte sich vor Angst jeden Moment übergeben zu müssen. Hoffentlich nahm er ihre Furcht nicht wahr. Semira hatte den beklemmenden Eindruck, dass man sie riechen konnte. Er machte eine Kopfbewegung hin zu dem Wäldchen am Fuß des Hügels. „Ihr Auto?“ Es war ein Fehler gewesen, es dort unten zu parken. Die Bäume standen zu weit auseinander und trugen kein Laub, sie verbargen nichts. Er hatte es von einem der oberen Fenster seines Hauses gesehen und sich seine Gedanken gemacht. Sie war ein Idiot. Hierherzukommen und niemandem Bescheid zu sagen. Und dann noch ihr Auto in Sichtweite der gottverlassenen Farm zu parken. „Ich... habe mich völlig verfahren“, stotterte sie. „Keine Ahnung, wie ich hier gelandet bin. Dann habe ich Ihr Haus gesehen und dachte, ich könnte fragen, ob...“ „Ja?“ „Ich bin neu in der Gegend.“ Sie fand, dass ihre Stimme völlig unnatürlich klang, viel zu hoch und etwas schrill, aber er konnte ja nicht wissen, wie sie für gewöhnlich sprach. „Ich wollte eigentlich, ich wollte...“ „Wohin wollten Sie denn?“ Ihr Kopf war leer. „Nach... nach... wie hieß der Ort...?“ Sie leckte sich über die trockenen Lippen. Sie stand einem Psychopathen gegenüber. Der Mann gehörte nicht nur in ein Gefängnis, er gehörte in die Sicherheitsverwahrung, davon war sie überzeugt. Sie hätte niemals allein hierherkommen dürfen. Niemand war da, der ihr helfen konnte. Sie war sich der vollkommenen Einsamkeit, der Weltabgeschiedenheit des Ortes, an dem sie sich befand, nur zu bewusst. Kein anderer Hof weit und breit, keine Menschenseele. Sie durfte keinen Fehler machen. „Nach...“, endlich kam ihr ein Name in den Sinn, „Whitby. Ich wollte nach Whitby.“ „Da sind Sie ganz schön weit von der Hauptstraße abgekommen.“ „Ja. Das schien mir allmählich auch so.“ Wieder lächelte sie verkrampft. Der Mann erwiderte ihr Lächeln nicht. Er betrachtete sie aus diesen starren Augen. Aber trotz der Gefühllosigkeit, die von ihm ausging, konnte Semira sein Misstrauen spüren. Seinen Argwohn, der mit jeder Sekunde, da er mit ihr sprach, zu wachsen schien. Sie musste weg!
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Literaturangabe:
LINK, CHARLOTTE: Das andere Kind. Blanvalet, München 2009. 672 S., 24,95 €.
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