Von Thomas Strünkelnberg
Was wäre, wenn der erfolgreichste Horrorschriftsteller der Welt einen Künstlerroman schriebe? Würde er ohne Gespenster auskommen – und bliebe das Buch noch ein Künstlerroman, wenn der Autor nicht auf seine Gruselstory verzichten mag? Erstaunlicherweise ist Stephen Kings neues Buch „Wahn“ viel mehr ein Künstlerroman als eine Horrorgeschichte, auch wenn im letzten Drittel die Gespenster das Kommando übernehmen. Denn der Horror, der erst spät richtig zum Zug kommt, kann es mit der ausgefeilten und raffinierten Spannungssteigerung des ersten Teils nicht aufnehmen. King stellt die Frage, wohin Kreativität – in diesem Fall eines Malers – führen kann. Monster spielen da nicht die wichtigste Rolle.
Eigentlich heißt Kings neues Buch „Duma Key“ – nach der fiktiven Florida-Insel, auf der die Handlung spielt. Doch die deutsche Variante „Wahn“ trifft den Kern, befasst sich das Buch doch mit einem Maler, der tatsächlich wie im Wahn zu handeln scheint, Visionen toter kleiner Mädchen hat und nach seinen kreativen Schüben heißhungrig über den Kühlschrank herfällt. Insofern erzählt das Buch von „Amerikas Meister des Schreckens“ (King über King) tatsächlich von einer Art Wahn, von der Macht der Kreativität, die in Kings Augen mächtig und gefährlich ist – und den Künstler selbst vernichten kann. Der Horror-Autor auf dem Weg zum Romancier.
Was bedeutet das Malen für die Hauptfigur Edgar Freemantle? „Einen Schutzwall gegen die Nacht“, sagt sein Therapeut. Der erfolgreiche Bauunternehmer Freemantle kann Schutz brauchen, Schutz gegen Zorn und Verzweiflung. Denn bei einem lebensgefährlichen Unfall auf einer Baustelle, bei dem ihn ein Kran fast zerquetschte, trug er schwere Kopfverletzungen davon und verlor seinen rechten Arm. Gegen Depressionen und ungesteuerte Wut soll das Malen helfen, der Unternehmer ohne jede Ahnung von Kunst beginnt ein neues Leben als Maler in Florida. Dort, in einem rosafarbenen Haus mit fantastischer Aussicht sitzend, das er „Big Pink“ nennt, malt er vor allem Sonnenuntergänge, aus denen Muscheln und andere gemalte Fundstücke surreale Gemälde machen.
Bis hierher geht es um den realen Schrecken, den King, wie er einst schrieb, mit erfundenem Schrecken bekämpfen will – „um mit dem tatsächlich existenten besser fertig zu werden“. Doch bald schon geschehen seltsame Dinge, die sich mit dem Rausch des Malens kaum noch erklären lassen. Denn Freemantles kreative Anfälle, sie wirken tatsächlich fast wie Anfälle, lassen ihn nicht nur grässliche Phantomschmerzen in seinem verlorenen rechten Arm spüren, er meint den Arm auch zu sehen. Bald stellt sich heraus, dass eine dunkle Macht auf der Insel ihr Unwesen treibt. Erst dann, im letzten Drittel, beginnt die eigentliche Horrorgeschichte mit lebenden Leichen, einem Totenschiff und dem leibhaftigen Bösen – die Welt, die Stephen King bekanntgemacht hat und ihn weltweit mehr als 400 Millionen Bücher in gut 40 Sprachen verkaufen ließ.
Doch genau diese Horrorgeschichte im letzten Teil des Buches wirkt seltsam belanglos nach dem realen Schrecken der Nahtoderfahrung und der Depressionen zu Beginn. Unvergleichlich die ausgefeilte Spannungsdramaturgie, die die Horrorepisode mit ihren bekannten Motiven wie angehängt wirken lässt. Doch bis dahin kann King es durchaus mit großen Künstlerromanen aufnehmen, wenn er beschreibt, wie ein Mensch vom Instinkt getrieben das Äußerste aus sich herausholt. Eine im besten Sinne naive Kunst, wie dem Nachwuchsmaler Freemantle auch bescheinigt wird. Und dabei noch treffliche Unterhaltung.
Literaturangaben:
KING, STEPHEN: Wahn. Roman. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Wilhelm Heyne Verlag, München 2008. 892 S., 22,95 €.
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