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Das Buch, das die Welt in sich einschließt

Peter K. Wehrlis Welt-und Zeit-Katalogbuch „Katalog von Allem“

© Die Berliner Literaturkritik, 14.09.09

„Ein Mathematiker, der nicht irgendwie ein Dichter ist, wird nie ein vollkommener Mathematiker sein.“ Meinte Karl Weierstraß, von Beruf Mathematiker. Stimmt der Satz auch, wenn man Mathematiker und Dichter austauscht? An Weierstraß’ Satz knüpft diesen Herbst der Südtiroler Dichter Oswald Egger an mit seinem Essay „Diskrete Stetigkeit“, in dem er über Poesie und Mathematik räsonniert. Gleich zu Beginn umreißt Egger seinen trigonometrischen Ausgangspunkt: „Ich dachte mir den Wald als Anordnung von Punkten im Grundriss. Wann waren zwei Punkte, Baum um Baum, gegenseitig sichtbar, im Raster, und wann nicht?“

Was, wenn man ein mathematisches Raster buchstäblich zum Fundament von Literatur macht? So wie dies der Zürcher Peter K. Wehrli tut in seinem „Katalog von Allem“. Denn Mathematik ist hier allgegenwärtig. Und doch nur Gerüst. Auch wenn man 1697 durchnummerierte Einträge aus 40 Jahren auf 504 Seiten plus Register zählt. Denn worauf der studierte Kunsthistoriker Wehrli abzielt, der sich seit jeher mehr als Schriftsteller sieht denn als Fernsehredakteur, als der er lange tätig war, ist das visuelle Einfangen der Welt in Sprache, ist die totale, aber untotalitäre Verschriftlichung des Gesehenen, Erlebten, Gesprochenen. „Schärfenverlagerung“ nennt er sein Prinzip, die „Veränderung der Fokussierung, in der ich – geradezu erregt – ein verwandtes Vorgehen entdecke, wie ich es im ‚Katalog von Allem’ praktiziere im Verhältnis von Eintragung zu ihrem Titel.“

Eintrag und Titel: Damit ist bereits das Schreibprinzip beschrieben, mit dem Wehrli vor 40 Jahren begann, als er während der Fahrt mit dem Orientexpress keine Kamera dabeihatte. Stattdessen fertigte er visuelle Schnappschüsse an, bestehend aus einem Schlagwort und einem Kurztext, einem Satz ohne Prädikat. Mittels dieser „Fotografien aus Sprache“ ordnete er in den Katalog Impressionen von Reisen aus Brasilien und Mosambik, aus der Karibik und Rumänien ein, Gespräche mit Freunden, Medienkritisches, Alltagsbeobachtungen, Observationen von Übersehenem am Sehfeldrand. Daraus entstehen dann, so Wehrli, „Vergrößerungen, Kopien, vielleicht seitenverkehrte, Ausschnitte, Farbkorrekturen, Schärfenverlagerungen und Retuschen“.

Eine Welt, die kenntlich wird, weil sie, so ja auch die biologische Perzeption des Menschen, auf dem Kopf steht. Manche Einträge dieses großen Kreuz- und Querlesebuches haben eine große imagistische Suggestionskraft, sind poetisch und zugleich präzis beobachtet und beschrieben. Eintrag Nr. 78 etwa: „die Zivilisationsgrenze, die sich darin zeigt, dass vor Pileçik ein Bauer eine Dreschmaschine zum Felde führt, nach Pileçik aber eine alte Frau auf einem vom Esel gezogenen Brett über ausgebreitete Kornähren reitet.“ Oder Nr. 1076: „der Flugzeugflügel der Austrian Airlines OS 222 von Zürich nach Wien am 26. April 1986, dieser Flügel, der – so hab ich es noch erlebt – die Nacht vom Tag trennt wie ein Messer, das durch den Abendhimmel schneidet.“

Was ist aber dieses Buch genau, dessen Editionsgeschichte kurios ist – die erste Ausgabe erschien auf englisch in einem bolivianischen Verlag? Ein (Reise)Tagebuch? Nur in beschränktem Maß, auch wenn den Hauptkorpus Aufzeichnungen aus Pernambuco, Lissabon, Bukarest, von den Azoren und der Algarve bilden. Denn über die Person Wehrli, Peter K., 1939 geboren, erfährt man verhältnismäßig wenig. Ist es Sudel- und Gedankenbuch, ein Werk in der Nachfolge eines Elias Canetti oder Georg Christoph Lichtenberg? Dafür ist es wiederum zu wenig aphoristisch und philosophisch. Ein Skizzenbuch ist es definitiv nicht, sind die Notate literarisch redigiert und ihre Reihung durchkomponiert, im Gegensatz zur Katalog von Allem-Ausgabe von 1999, deren 1111 Einträge noch der Chronologie folgten. Die Skizzen bleiben: Splitter, Skizze, Eintrag. Ist es ein Hauptwerk, das wie die Bände des Wieners Franz Schuh dezidiert aus Nebenwerken besteht? Schon eher.

Vielleicht beschreibt das zwischen allen Genres oszillierende Wesen des Katalogs jene Beschreibung am Besten, die auf eines anderen Schweizers Hauptwerk aus scheinbarem Nebenbei, auf die Kolumnen Peter Bichsels, gemünzt ist. Dessen Texte wurden als „Geschichten aus dem Alltag und über den Alltag, Momentaufnahmen, Begegnungen, unbotmäßige Einmischungen, Zwischenrufe, Erinnerungen, Liebeserklärungen“ bezeichnet.

Worauf Wehrlis Notatensammlung abzielt, ist „das eigentliche Alles, das sich ergibt aus der Vorstellung, es sei jedes dieser Millionen von Dinge nur ein einziges Mal vorhanden auf der Welt, und das erstaunlicherweise doch dieses Eine bleibt: nämlich alles.“ Die Welt als Buch, das Zeit in Gegenwart umformen will, Beobachtetes in Geschriebenes. Wehrli schreibt von der „Gewissheit, der Gewinn des Erinnerns liege nicht in der Erinnerung selber an ein Ereignis, sondern im möglicherweise lebensverlängernden Wiedergewinn der Zeitspanne, in der es geschehen war.“

Einer der eindrücklichsten Einträge, „Die Zukunft“, handelt von eben dieser Bewegung durch Raum und Zeit, vom Selbsterkennen im Welterkennen: „das Gewimmer in der Sitzreihe hinter mir bei der Vorführung von Charlie Chaplins Film Circus im Kino in Vevey im Mai 1969, dieses sirenenartige Heulen, das sich anhörte, als schalle es über weite Ebenen und frisch vernarbte Grenzen in diesen Tag hinein, und das mir wohl nur deshalb noch jetzt in den Ohren hallt, weil mir ein Blick nach hinten verraten hatte, dass es niemand anders war als der greise Charlie Chaplin, der da vor seinem jugendlichen Abbild auf der Leinwand weinte, jammerte angesichts einer Vergangenheit, die nur die Tränen jenes Menschen weckt, dessen Zukunft schon vorbei ist.“

Literaturangabe:

WEHRLI, PETER K.: Katalog von Allem. Vom Anfang bis zum Neubeginn. 1697 Nummern aus 40 Jahren. Ammann Verlag, Zürich 2008. 540 S., 24,90 €.

Weblink:

Ammann Verlag


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