ZÜRICH (BLK) – Im Februar 2010 ist im Paul Zsolnay Verlag Léa Cohens Buch „Das Calderon Imperium“ erschienen. Es wurde von Thomas Frahm aus dem Bulgarischen übersetzt.
Klappentext: Bulgarien 1941: Dank eines genialen Plans gelingt es Jules Calderon, Industrieller und Jude, sein Firmenimperium vor der Enteignung durch den mit Hitler paktierenden Staat zu retten. Mit seinem Sohn, seinem Prokuristen und seinem Anwalt überschreibt er es einem anonymen internationalen Konsortium namens „Alternus“. Danach begeht er Selbstmord. An sein Vermögen kommen aber weder die Faschisten noch später die Kommunisten heran. Ein halbes Jahrhundert später glaubt der bulgarische Geheimdienst, den Milliarden endlich auf der Spur zu sein. Lea Cohen hat einen packenden Polit-Thriller über einen schier unglaublichen, aber authentischen Enteignungsversuch geschrieben.
Léa Cohen wurde in Sofia geboren und studierte dort Klavier und in Utrecht Musikgeschichte. Sie war Leiterin der Philharmonie in Sofia und nach 1989 Botschafterin Bulgariens in Belgien, Luxemburg, der Schweiz und Liechtenstein. Heute lebt sie nahe Neuchâtel und in Sofia. (kör)
Leseprobe:
© Paul Zsolnay Verlag ©
Ein blauer Briefumschlag mit Schleife blinkte in der rechten unteren Ecke des Bildschirms. „You’ve got a mail“, meldete die virtuelle Butlerstimme. Eva klickte auf das blinkende Icon und las:
„Eva, bist du gut angekommen? Wie geht es dir? Warum meldest du dich nicht? Es küssen dich Lora und Lisa“
Sie würde ihren beiden Freundinnen schon sagen, warum sie sich bisher nicht gemeldet hatte. Dabei stellte sie sich vor, dass diese Nachricht aus achttausend Kilometern Entfernung durch einen Stecker in der Wand zu ihr gelangt war. Vielleicht war es gerade diese gewaltige Entfernung, die ihr den Wert freundschaftlicher Nähe noch einmal deutlich machte, denn im Gegensatz zur Familie, in die man hineingeboren wurde, war der Mensch für seine Freunde selbst verantwortlich. Eva hatte kein Glück in der Liebe gehabt; dafür hatte das Leben sie mit wirklichen Freunden beschenkt. So etwas war Schicksal. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass dieses Schicksal einem immer genau die Menschen als Freunde schickte, die man brauchte, um mit irgendetwas im Leben fertig zu werden. Lisa und Lora waren ihr auf diese Weise geschickt worden, durch Umstände, die weder von ihr noch von ihnen abhingen. Doch diese Freundschaft war nichts weniger als eine Zufallsbekanntschaft, da sie gewissermaßen schon vor ihrer Geburt festgestanden hatte.
In Evas Weltbild gab es keine Zufälle. Alles, was geschah, war für sie determiniert. Selbst das absurdeste Zusammentreffen versuchte sie logisch herzuleiten und zu erklären, weil sie fest davon überzeugt war, dass alles, was als Zufall er schien, dem Zahlenspiel einer höheren Macht entsprang und sich bei genauerem Betrachten als Ergebnis einer ausgeklügelten Berechnung herausstellte. Überrascht waren die Menschen nur deshalb, weil sie nicht begriffen, wie ein Ereignis entstand, und so redeten sie der Einfachheit halber von Zufall oder Schicksal. Es ist gut möglich, dass sich zwei Menschen über einen langen Zeitraum ständig verfehlen, weil sie einander nicht bemerken, einander nicht auffallen; doch in einem ganz bestimmten Moment, sei es nun durch eine besondere Konstellation ihrer Aminosäuren oder ihrer Hormone, messen sie ihrem Zusammentreffen, das auch viele Male vorher hätte stattfinden können, besondere Bedeutung bei und nennen es einen „glücklichen Zufall“. Sogar die so genannte Liebe auf den ersten Blick erklärte Eva sich als Folge bestimmter chemischer Reaktionen, das Verschwinden der Liebe als Ende der Reaktion. So materialistisch sich diese Theorie anhörte, so sehr gefiel sie Eva in ihrem provozierend unromantischen Ansatz.
Zurück zu Evas Freundschaft mit Lisa und Lora, die insofern vorbestimmt war, als ihre drei Väter eng befreundet waren. Evas eigener Vater, der Notar und Rechtsanwalt Teodor Marinov, verkehrte mit Onkel Jacques und Onkel Robert, so lange Eva denken konnte. Der eine war in Marinovs Alter und seit Kolleg-Zeiten mit ihm befreundet, der andere zehn Jahre jünger und aufgewachsen im Arme-Leute-Viertel der Minderheiten am damaligen Stadtrand Sofias, das den türkischen Namen Jutchbunar (Fünfbrunn) trug. Beide ersetzten den Marinovs die Verwandten, die über die ganze Welt verstreut lebten. Dadurch, dass Eva die beiden Männer mit „Onkel“ anredete, wurde die Illusion fast vollkommen. Zudem erhöhte diese Selbsttäuschung ihr Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, was in den Zeiten, in denen sie aufwuchs, kein geringes Kapital war.
Die Freundschaft Teodor Marinovs mit Jacques und Robert erwies sich als verblüffend widerstandsfähig gegen alle Bilden und Unbilden des Schicksals, das zwar harte Prüfungen für jeden der drei schickte, gleichzeitig aber alles tat, um sie beisammen zu halten, indem die jeweils Verschonten dem Betroffenen aus der Patsche halfen. Das war natürlich nicht immer möglich, vor allem wenn am Pokertisch des Schicksals Spieler mit gezinkten Karten auftauchten.
Beim Heiraten gaben sich die drei die Klinke zum Standesamt beinahe in die Hand. Als erster heiratete Jacques, der Jüngste im Bunde, Tante Amalia; im Jahr darauf taten es ihm die beiden anderen, die schon als alte Junggesellen abgeschrieben worden waren, nach und erweiterten die Verwandtschaft um die schöne und elegante Tante Elisabeth und ihre eigene künftige Mutter Newena. In den kommenden zwei Jahren wurden allen dreien Töchter geboren. Als letzte erblickte Eva das Licht der Welt.
So sah das nähere Umfeld in Evas Leben aus, wie es sich ihrer kindlichen Naivität und Einfalt darstellte.
„Ihr Lieben! Bin wohlbehalten in New York eingetroffen, habe aber noch nichts unternommen. Ab morgen wird gehandelt!! Es küsst euch eure E.“
Sie klickte auf die Schaltfläche mit der Aufschrift „Send“ und wartete, bis der Computer „Ok“ anzeigte. Für heute reichte es, fand sie. Und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sollte sie ruhig einschlafen. Sie ließ den Computer eingeschaltet. Er gab ein leises, angenehmes Brummen von sich, das ihr wie das Schnurren einer Katze vorkam.
In New York sollte Eva die Adresse eines Mannes sowie ein Bankkonto ausfindig machen. An der Adresse des Mannes war ihre Freundin Lora interessiert; Lisa gehörte kraft Erbschaft letztlich alles, was sich auf diesem Bankkonto befand. Beide, sowohl die Adresse als auch das Bankkonto, konnten das Leben ihrer Freundinnen entscheidend verändern, und vielleicht auch das ihre. Die Angelegenheit mit der Adresse war delikat, und Eva musste all ihr diplomatisches Geschick einsetzen. Was das Bankkonto betraf, so hatte sie keinen Schimmer, ob und wie sie überhaupt daran kommen sollte; doch sie wollte wenigstens nichts unversucht lassen.
Alles hatte begonnen an einem Tag, an dem Eva den Brief eines alten Freundes ihres verstorbenen Vaters bekam. Auf dem Briefumschlag aus einfachem Papier war eine Reklame der Air France aufgedruckt; der Stempel auf der Briefmarke trug den Absender Paris. Eva sah sich den Stempelabdruck an und bemerkte, dass das Absendedatum schon fast zwei Monate zurücklag. Wer konnte ihr nur aus Paris einen so dicken Brief schreiben? Der Verfasser hatte ihre Anschrift sorgfältig in lateinischen und noch einmal in kyrillischen Druckbuchstaben auf den Umschlag geschrieben; dennoch war zu erkennen, dass es eine altmodische Handschrift war. Sie öffnete den zerknitterten Umschlag, und heraus fielen ein Dutzend eng beschriebene Blätter eines Briefpapiers, wie man es in billigen französischen Hotelzimmern findet. „Dorogaya Evotchka“, redete der Absender sie auf Russisch an. Das half ihrer Erinnerung auf die Sprünge. In ihrer Kindheit hatte es einen einzigen Menschen gegeben, der sie so angeredet hatte.
Der Brief war in reinem und gutem Bulgarisch verfasst.
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Literaturangabe:
COHEN, LÉA: Das Calderon Imperium. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Thomas Frahm. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010. 348 S., 21,50 €.
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