SEGHERS, ANNA: Tage wie Staubsand. Briefe 1953-1983. Hrsg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke. Werkausgabe V/2. Aufbau Verlag, Berlin 2010. 645 S., 42 €.
Von Roland Wiegenstein
Als Anna Seghers 1947 aus dem mexikanischen Exil nach Deutschland zurückkehrte, war die 1900 geborene eine berühmte Schriftstellerin. Nicht nur im Ostblock – sie war und blieb Kommunistin –, auch „im Westen“. Ihr Roman „Das siebte Kreuz“ wurde in Amerika verfilmt, mehrere ihrer vielen Bücher waren auch in Holland, Frankreich, der Bundesrepublik erschienen, die DDR, deren Bürgerin sie 1950 wurde und deren Schriftstellerverband sie als Präsidentin leitete, hatte eine zum Vorzeigen. Sie hat das natürlich gewusst, nahm ihre Privilegien ungescheut in Anspruch, wozu vor allem weite Reisen gehörten (bis nach Brasilien!), die Vorzugsbehandlung bei Ärzten und in Kliniken (die sie seit einem schweren Unfall in Mexiko immer wieder brauchte), den (fast) freien Postverkehr, der es ihr gestattete, das weit gespannte Netz von Freundschaften aufrechtzuerhalten.
Unterstützen Sie dieses Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei! Vielen Dank!
„In erster Linie beruhte ihre Prominenz jedoch darauf, dass sie bei allen Funktionen eine Schriftstellerin von Rang war und blieb. Sie hatte anerkannte Jugend- und große Exilwerke geschrieben, die je nach Art und Periode sehr viel gelesen oder neu entdeckt wurden, und sie produzierte unermüdlich weiter: Romane, Erzählungen, Aufsätze, mit denen sie in der Gegenwart wirken wollte und es auch tat. Dazu kam ihr Ruf als Mensch, der ‚weisen’, der ‚gütigen’ Anna, ein Image, das der Kulturpolitik der DDR nützte und das entsprechend gepflegt wurde, aber, wie die Briefe belegen, eine reale Grundlage hatte.“ So ihre Biografin Christiane Zehl Romero, die für den zweiten Band der Briefe genau 250 aus einer sehr viel umfangreicheren Korrespondenz zwischen 1953 und 1983 ausgesucht hat, mit dem die 22 Bände umfassende Gesamtausgabe schließt.
Diese Auswahl wird nirgends näher erläutert, so wie auch die ausführlichen Anmerkungen zu jedem Brief deutliche Lücken aufweisen, gleichwohl, ebenso wie die Register, unverzichtbar sind. Denn die Briefpartner sind, mit wenigen Ausnahmen, alle tot. Die meisten waren Exilierte wie sie selbst. Darunter auch viele, die in der DDR den Ton und die Politik bestimmten. Es waren „ihre Leute“. Zehl Romero: „Hier und an vielen anderen Stellen der Briefe kommt zum Ausdruck, was sie an Menschen am meisten respektierte und selbst leben wollte: das unerschütterliche Festhalten an der ursprünglichen Idee, die richtig und gut war, selbst wenn sie oft missbraucht wurde und viele, die ihr dienten, teuer für ihre Treue bezahlen mussten. Seghers versuchte nie, Sozialismus zu definieren. […] Für sie war grundlegend, dass er ‚weiter’ wollte, in eine gerechte und friedliche Welt, die es noch lange nicht gab.“
Das bestimmte auch ihre Haltung zum „sozialistischen Realismus“. Für sie bedeutete er allein den sozialistischen „Standpunkt“ des Schreibenden – nicht aber seine Methoden, Themata, Phantasien – die waren sakrosankt. Das kommt immer wieder auch in diesen Briefen zum Ausdruck, meist verschleiert, in Andeutungen, offene Opposition war ihre Sache nicht, wohl aber das Eintreten für solche „Sozialisten“, die vom vorgeschriebenen Wege der stalinistischen und später Ulbricht’schen Anordnungen abwichen. Dafür finden sich in den Briefen zahlreiche Beispiele. Sie war wirklich so etwas wie die Mutter der roten Kompanie, wenn schon keine Mutter Courage. Ihr war es wichtiger, Frieden und Freundschaft auf allen ihren Wegen zu verbreiten, gute Ratschläge für die Ungebärdigen zu geben und auch Hardliner zu überzeugen, die sich dafür schadlos hielten, indem sie Agenten des MfS auf sie ansetzten.
Die Genossen waren keine feinen Leute und daran hat sie oft gelitten, wenigstens ihren engsten Freunden teilt sie das wohl abgewogen (oder schlecht verschleiert) mit. Die „Umbrüche“ in der DDR und den Staaten des Ostblocks kommen nur als Traurigkeiten vor, nie direkt. Man muss sich schon die Daten genau ansehen, um Spuren ihres Entsetzens etwa über die Chruschtschow-Rede, den Ungarn-Aufstand oder andere Repressionsmaßnahmen zu entdecken. Wichtiger war ihr, wie es den Freunden dabei erging, etwa Lukács oder Ehrenburg. Wichtig war ihr, dass der Clan der Seghers, ihre große Familie, zusammenhielt, sich von nichts auseinanderdividieren ließ, auch wenn der Sohn in Frankreich lebte oder die Tochter als Ärztin in Afrika. Sie war in der zweiten Lebenshälfte häufig krank, versäumte nie, darauf hinzuweisen, ohne je in einen klagenden Ton zu verfallen, den fröhlichen, oder mindestens getrosten, Ton ihrer Mainzer Jugend hat sie nie ganz verloren.
Was diesen Briefwechsel wichtig macht, sind ihre leidenschaftlichen Freundschaftsbekundungen, die Liebe, die sie für viele der Adressaten empfindet, die Treue, die sie ihnen hält. Das ist alles historisch, auch die Freunde sind tot, die meisten vor ihr gestorben. Aber Einsamkeit, die sie fühlt, ist kein Grund, mit dem Schreiben aufzuhören. Noch im letzten der abgedruckten Briefe aus ihrem Todesjahr 1983 heißt es: „Ich wohne seit einiger Zeit in einem Heim des Regierungskrankenhauses, in Friedrichshagen, dicht am Müggelsee. […] Es ist keine wunderbare Lösung, aber besser als andere Sachen, die ich mir anguckte. Wenn Sie kommen, werden wir lustig sein können.“
So viel Lustigkeit wie möglich aus einem schweren Leben ziehen zu können – das hat sie versucht. Es ist nicht leicht gewesen.
Weblink: Aufbau Verlag