Aktuelle Blockbuster wie „Iron Man“, „Hancock“ und „Der unglaubliche Hulk“ sind ohne digitale Tricks nicht mehr denkbar. Aber auch in Filmen, die offensichtlich nur von normalen Menschen in einer normalen Umgebung erzählen, finden sich bereits zahlreiche digitale Nachbearbeitungen. Gleichzeitig rückt in den Kinos wegen der Kosten das Ende der traditionellen Filmspule zugunsten eines digitalen Downloads immer näher. Auf digitalen Medien, vulgo DVD und Festplatte, werden immer mehr Filme verfügbarer und die chronologische Erzählung wird – von den Zuschauern – immer mehr zu einem mühelosen Ansehen bestimmter Ausschnitte reduziert. Außerdem werden Filme inzwischen überall gesehen. Videospiele nehmen immer mehr filmisch-erzählerische Elemente auf. Gleichzeitig beeinflussen ihre Ästhetik und ihr kommerzieller Erfolg immer mehr das Kino.
Die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Daniela Kloock versucht in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Zukunft Kino – The End of the Reel World“ diesen Veränderungen nachzuspüren und Antworten auf die Frage, wie sich die Welt des Kinos in den kommenden Jahren verändern wird. „An kaum einem Ort wird die Verbindung von Kultur und Technologie so deutlich wie im Kino. Aktuell verändern sich unter dem Vorzeichen der Digitalisierung die Filmbilder, die Filmindustrie, aber auch unsere Rezeptions- und Wahrnehmungsformen. Neue Techniken des Sehens und Erzählens zeichnen sich ab. Von einer Revolution ist die Rede, so grundlegend und umfassend, dass sie nicht nur in technologischer Hinsicht einen Umbruch bedeutet“, schreibt Kloock in ihrem Vorwort und fährt fort: „Die Reflexion über diese Veränderungen unserer Bildkultur – als deren populärstes Erbe das Kino gelten kann – findet jedoch nur in einem erstaunlich kleinen Fachkreis statt. Die hier versammelten Autorinnen und Autoren versuchen, die Diskussion zu öffnen und das Kino auf neue Weise zu betrachten.“
Diesen Anspruch löst der wie ein Ausstellungskatalog gestaltete Band allerdings in weiten Teilen nicht ein. Zwar markieren die einzelnen, fast ausschließlich deutschsprachigen Autoren mit ihren Aufsätzen unterschiedliche Herangehensweisen und Ansichten zum Thema, und Peter Greenaways provozierende Thesen in „Das Kino neu erfinden“ bilden einen gewissen Bezugspunkt für die fast nur aus Wissenschaftlern bestehende Autorenschar.
Doch zu viele Texte – teilweise auch von bekannten Autoren, die schon wesentlich Lesbareres geschrieben haben – gefallen sich in einem literaturwissenschaftlichen Duktus, dessen Aussage wegen der Sprache für ein Nicht-Fachpublikum nicht nachvollziehbar ist. Diese gequirlte, unverständliche Sprachakrobatik ohne erkennbaren Bezug zur Realität verhindert genau den von Kloock nach dem Vorwort erwünschten breiteren Diskurs über das Ende der „Reel World“ (ein Sprachspiel, das nicht ins Deutsche übertragen werden kann).
Die wenigen gelungenen Artikel gehen auf die technische Entwicklung – wie die digitale Ästhetik Filme beeinflusst, welche Interdependenzen es zwischen Spielfilmen und Computerspielen gibt – ein.
Natürlich kann ein Sammelband nicht alles abdecken und die einzelnen Aufsätze sollen keine endgültigen Antworten geben, sondern, wie Greenaways Thesen, zum Nachdenken anregen. Trotzdem bleiben schmerzliche Lücken, die wenigstens in Teilen ein Gegengewicht zu den rein medientheoretisch-philosophischen Betrachtungen hätten sein können.
Denn bei all der öfters geäußerten und teilweise vollkommen überzogenen Begeisterung über das Neue und wie es unsere Welt verändern wird, ist der faktengestützte Blick auf die Filmindustrie und dabei natürlich Hollywood als das Zentrum der Entwicklung schmerzlich unterrepräsentiert. Hier fehlen eindeutig Berichte und Aussagen von Insidern. Die Interviews mit Benedict Neuenfels, Christoph Hochhäusler, Edgar Reitz und Tom Tykwer am Ende des Buches sind zwar inspirierend zu lesen, aber keiner von ihnen steht an der Spitze der Entwicklung hin zum digitalen Kino oder der Symbiose von Trick- und Realfilm.
Auch wird die Funktion von sinnstiftenden Erzählungen nicht berücksichtigt. Einiges Neue, wie der inzwischen überall verfügbare Videobeamer und – spätestens seit der Fußball-Weltmeisterschaft – dem Public-Viewing, gab es, wie Edgar Reitz in dem in „Zukunft Kino“ abgedrucktem Interview sagt, bereits früher. An diesen öffentlichen Massenaufläufen zeigt sich auch die Sehnsucht der Zuschauer nach gemeinschaftlichen Erlebnissen, die die Idee eines interaktiven Spielfilms, bei dem das Publikum im Kino kollektiv über den Fortgang eines Spielfilms entscheiden soll, als abstruse Fantasie erscheinen lässt. Schließlich setzte sich auch das immer wieder postulierte Geruchskino nicht durch.
In der Freude über das Neue wird – wieder einmal – vergessen, wie viel von dem Alten bestehen bleibt. Das Erzählen von Geschichten als kollektive Sinnstiftung überlebte den Gang des Menschen von der Höhle über das Theater in den Kinosaal. Es wird auch den Tod der Filmspule überleben.
Literaturangaben:
KLOOCK, DANIELA (Hg.): Zukunft Kino – The End of the Reel World. Schüren Verlag, Marburg 2008. 352 S., 400 farbige Abbildungen, zum Teil doppelseitig, 49 €.
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