Während des ersten Berlin-Aufenthalts entstand ein Schlüsselwerk, Emilio Vendovas „Absurdes Berliner Tagebuch ’64“, und seit seiner Ausstellung „Ambiente Berlin“ zur Biennale in Venedig 1990 hat man in Berlin nicht viel von ihm sehen können. Mit 150 Werken wird nun ein umfassender Überblick über sein gesamtes Lebenswerk vermittelt. Seine Malerei will uns keine heile Welt vorspiegeln, sondern einen schonungslosen Existenzbericht über die Widersprüche der Welt vermitteln.
Die ungehemmte Regellosigkeit seiner Bildformen ist das Resultat genau ausgetragener Widersprüche, sie ist aus dem „Anprall gegensätzlicher Situationen“ erwachsen. Die ständige Variation der Bildmittel erfolgte in einem nicht enden wollenden dialektischen Prozess. Man kann natürlich ein solches Lebens-Kunstwerk in einen historischen Kontext einordnen, der dann immer mehr Einfluss auf seine Bedeutung gewinnt. Aber vielleicht ist es sinnvoller – und genau das haben die Ausstellungsmacher im Sinn -, wenn man diese Arbeiten auf sich wirken lässt – die dramatischen Materialkompositionen mit ihrem lautstarken Kampf zwischen Flächigkeit und Körperhaftigkeit, Bruch und Wandlung -, um dann daraus zu folgern, was gerade diese Eigenschaften für Gefühle verkörpern: erfrischenden Widerspruchsgeist, gierige Vitalität und dynamische Expansionskraft.
Schon wenn man die Ausstellung betritt, wird man von seinen Dischi, Tondi und Oltre eingefangen, überlebensgroße Holzscheiben oder Leinwände, beidseitig oder nur einseitig bemalt bzw. vom Quadrat umschriebene Kreisformen. Sie stehen am Boden, scheinen von einer Ecke aus auf den Betrachter zuzurollen, schweben schräg über dem Boden, brechen aus der Wand hervor oder hängen senkrecht, als wollten sie einem den Durchgang verwehren. Man kann um die Werke herumgehen und sie von den verschiedenen Ebenen und wechselnden Blickwinkeln aus betrachten.
Ja, erst im Umschreiten, in ihrer Beziehung zum physisch realen Raum können sie ganz erfasst werden. Es sind Malflächen, von denen eine ungeheure Dynamik ausgeht, die eine Fülle von Gesten und Materialien, von sinnlichen und emotionalen, sensiblen wie heftigen Bewegungen aufnehmen. Hier herrscht anscheinend sowohl Chaos als auch Unordnung – aber nur aus großer Ferne betrachtet. Man muss ganz nahe an sie herantreten, in sie hineinschauen, sich in sie hineinbegeben, um verstehen zu können, welche Rhythmen, welche Ordnungen dieses konfliktreiche Aufeinandertreffen zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung ausdrückt, dieser „Zusammenstoß von Situationen“, wie ein Werktitel des venezianischen Künstlers lautet. Seine Aktionskunst soll uns spontan und unmittelbar in den Aufstand der Gefühle, in ihre Unruhe, Zerrissenheit und dialektische Widersprüchlichkeit mit einbeziehen.
Die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit der Fondazione Emilio e Annabianca Vedova in Venedig vorbereitet wurde, war vorher in der Galleria nazionale d’arte moderna in Rom zu sehen gewesen. Ausstellung und das von Angelandreina Rorro und Alessandra Barbuto herausgegebene Katalogbuch sind also ein Gemeinschaftswerk dieser drei dem Künstler besonders verpflichteten Institutionen.
Für die Ausstellung der Berlinischen Galerie ist eine deutsche Ausgabe des Kataloges gedruckt worden. Der prächtige Bildband vermittelt in Texten von italienischen und deutschen Kunsthistorikern und in großformatigen Abbildungen einen nachhaltigen Eindruck vom Lebenswerk des venezianischen Künstlers. Alle Schaffensphasen werden kommentiert und einzelne Werke bzw. Werkzyklen besonders hervorgehoben.
So hat Emilio Vedova in den 30er und 40er Jahren aus figurativen, dann geometrisch konstruktivistischen Anfängen eine eigene Variante der Aktionsmalerei entwickelt, der er bis zuletzt treu geblieben ist. Bald sollte er sich dann auch aus den Fesseln des geometrischen Rasters, das geschlossene, labyrinthartige Räume angedeutet hatte, lösen und zu einer Architektur der Striche, einer Dominanz der dramatischen Geste, einem bewegten, von Energiezentren und Bewegungsflüssen durchpulsten „Handlungsraum“ finden.
Vedova stellte vor allem die alte Form des Tafelbildes in Frage. Malerei sollte nicht mehr als flache Leinwand an der Wand hängen. Der dynamische Bildraum sollte mit seiner visuellen Plastizität direkt in den messbaren Raum aus- und eingreifen. Zunächst stellte er zwei Wandgemälde über Eck („Zusammenprall gegensätzlicher Situationen“), dann entwarf er ein L-förmiges Bild, indem er Scharniergelenke einbaute („Zyklus ’61“). Der Ausbruch aus der traditionellen Bildform des Rechtecks führte in den Plurimi („Mehrfachgebilden“) zu dem frei in den Raum gestellten, gewinkelten, gleichwohl planen Bild als offen verschachtelte, ineinander gesteckte Flächenkonstruktion, als ebenso raumschaffende wie raumstörende Installation. In diesen farbigen Flächenräumen wird für den Betrachter Raum über die Anschaulichkeit hinaus als Ablauf von Zeit ganz real erfahrbar, denn er steht ja mitten im Raum, er steht mitten im Bild.
So hat Vedova auch sein „Absurdes Berliner Tagebuch ’64“ geschaffen, beidseitig auf unregelmäßige Bretter gemalt und auf Stützen und an Seilen mitten in den Raum gestellt. Malerei wird hier zur Skulptur und auch zur Architektur, zur Innenraumgestaltung. Diese Verwischung der Grenzen innerhalb der Künste zu einer Gattung, die man heute Environment nennt, war gleichfalls schon von den Dadaisten, etwa in den Merz-Bauten Kurt Schwitters, verwirklicht.
Das „Absurde Berliner Tagebuch ’64“‚ das „Skandalereignis“ auf der documenta III in Kassel, das der Künstler 2002 der Berlinischen Galerie schenkte, entstand damals in der Insel-Stadt Berlin, dem Schnittpunkt hart aufeinanderprallender Gegensätze und Widersprüche, der Absurditäten und des Kalten Krieges, und zudem noch in dem einstigen Atelier des Nazibildhauers Arno Breker im Grunewald. Im wechselvollen Mit- und Gegeneinander von Raum und Zeit hat Vedova hier seinen Plurimi den Charakter von szenischen Vorgängen gegeben, sie bestehen aus unvorherzusehenden Erscheinungen und Explosionen, aus Spannungen und Zusammenstößen, aus denen das Drama entspringt und in denen sich Bedrängung, Verzweiflung, aufkeimende Hoffnung und Zukunftsperspektive kundtun.
Immer ist seine Malerei Gegenwart, Teilnahme, Erregung, inneres Angespanntsein. Der Schwarz-Weiß-Kontrast, Gleichnis des Konfliktes zwischen Licht und Finsternis, der seit den Schöpfungstagen das Weltall beherrscht, ist von äußerster Radikalität. Die farbige Energie dieser Malerei, die wie eine elementare Kraft herausbricht, ein Blutrot, ein Gelb, Blau, Violett, später auch Grün, spricht von innerem Aufruhr, von Gegensätzen, wirkt wie ein Schrei („Ich schreie die menschliche Präsenz hinaus“), mag aber auch - vor allem in jüngeren Arbeiten - zur schwelgerischen Materie geraten, die das Sinnliche, die enge Beziehung von Eros und Tod berührt.
Vedovas Bilder können gewaltsam, brutal, aggressiv, aber ebenso erotisch und empfindsam sein, ohne dass er der konkreten Beschreibung des Gegenständlichen bedarf.
Man kann auf Arbeitsfotos sehen, wie der Künstler physisch und psychisch im bildnerischen Prozess präsent ist, wie er selbst zum Teil des Bildes wird, das mit seiner Körpergröße und seinem Bewegungsradius korrespondiert. Er liegt auf dem Boden, er kniet, er steht oder springt an einer der großformatigen „Teleri“ (Leinwänden) hoch, die theatralischen Gebärden seiner weitausgreifenden Arme sind als räumliches Element anzusehen. Der gesamte Arbeitsvorgang Vedovas als heftiger körperhafter Einsatz ist Teil seiner vitalen, raumschaffenden Kreativität.
Als 1992 - während des Balkankrieges - die Nationalbibliothek von Sarajevo in Flammen aufging, assoziierte Vedova dieses Ereignis sofort mit der Bücherverbrennung der Nazis 1936 auf dem Berliner Opernplatz und schuf ein großes Plumiro-Disco mit dem Heine-Wort „Wer Bücher verbrennt, verbrennt auch Menschen“ als Titel. In Form einer Collage schichtete er aufgeklebtes, verbranntes Papier übereinander zu einem Buch-Denkmal, das die beweglichen Seiten eines totalen Kunstwerks darstellen soll, Symbol für eine neue geschichtliche Untat.
Seine Collagen, Bilder im Raum, seine Raumobjekte, Raumkörper, seine Aktionen im Raum sind voller Zeichen, Hinweise, Warnsignale. Hier ist kein Unterbewusstsein, nichts Irrationales am Werk. Es handelt sich um Handlung, Eingriff, Kampf, Suche nach dem Sinn. In der Welt sein, bedeutet für Vendova sich der Welt auszusetzen, egal ob es nun ihm widerfährt oder einem andern, es widerfährt immer alles allen. Und es geht ihm nicht so sehr darum, wie man dem Aufprall widerstehen kann, sondern wie viel Energie der Aufprall freizusetzen vermag.
Die Ausstellung der Galleria nazionale d’arte moderna Rom und der Berlinischen Galerie in Zusammenarbeit mit der Stiftung Emilio und Annabianca Vedova läuft noch bis zum 20. April 2008 in der Berlinischen Galerie.
Literaturangaben:
RORRO, ANGELANDREINA / BARBUTO, ALESSANDRA (Hrsg.): Emilio Vedova. 1919-2006. Verlag Mondadon Electat S.p.A., Milano 2008. 290 S., 29,80 €.
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