MÜNCHEN (BLK) – Im Febreuar 2009 ist im Carl Hanser Verlag das Buch „Das Gegenteil von Tod“ von Roberto Saviano erschienen.
Klappentext: Nach dem sensationellen Erfolg seines Mafia-Bestsellers „Gomorrha“ zeigt Roberto Saviano in erschütternden Reportagen die andere Seite der Medaille: die Welt jener jungen Italiener, die auf der Seite des Gesetzes stehen und doch auch an vorderster Front. Im armen Süden von Italien, wo jungen Männern keine große Wahl bleibt, wenn sie einer legalen Arbeit nachgehen wollen, ist der Dienst bei der Polizei oder beim Militär oft die einzige Chance, der Kriminalität zu entgehen. Savianos namenloser Erzähler berichtet von gleichaltrigen Freunden, die sich zu Kampfeinsätzen gemeldet haben, im Kosovo, in Afghanistan oder in Somalia, und von denen viele nur als Tote zurückgekommen sind.
Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, studierte Philosophie an der Universität Neapel Federico II. Nach seinem Abschluss arbeitete er als Journalist für den Corriere del Mezzogiorno, Il Manifesto und L`Espresso. Für Gomorrha, sein erstes Buch, wurde Roberto Saviano u.a. mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Gomorrha löste 2006 in Italien, aber auch den europäischen Nachbarländern, eine breite Diskussion über die weltweite Macht der Camorra aus. Der Autor erhielt in der Folge Morddrohungen und lebt heute unter Polizeischutz. Er ist Mitglied der Organisation „Osservatorio sulla camorra e l’illegalità“. (jud)
Leseprobe:
© Carl Hanser Verlag ©
In Marias Zimmer hängen überall Fotos von Gaetano. Gaetano am Meer. Gaetano beim Training in der Sporthalle. Gaetano, der ihr einen Kuss gibt. Ein Bild ist besonders hübsch und bringt mich zum Lachen: Gaetano hält Maria mit beiden Händen in der Luft wie eine Hantel, als wäre er ein Gewichtheber bei der Olympiade. Gaetano war nicht muskulös. Er hatte einen durchtrainierten Körper wie ein Boxer, aber in der Fliegengewichtsklasse. Und dann ist da ein Foto vor dem Kolosseum. Der klassische Ausflug nach Rom.
„Ja, das war kurz bevor er nach Afghanistan ging. Ich war zum ersten Mal in Rom. Wir wollten uns Bonbonnieren als Geschenk für die Hochzeitsgäste anschauen, wir wollten nicht so was Gewöhnliches, sondern etwas Ausgefallenes, und dann hätten wir zu Hause ähnliche wie in Rom gesucht.“
Ihre Freundinnen, die, die auf die Universität gehen, meinten, es mache sich viel besser, statt Bonbonnieren Anstecknadeln von Emergency zu schenken. Auch die Leute von Emergency waren in Afghanistan, und Gaetano hätte vielleicht irgendwo in Kabul Gino Strada, dem bärtigen Leiter dieser Hilfsorganisation, begegnen können.
„Ich habe tatsächlich an diese Sache mit Emergency gedacht. Aber was hätten meine Verwandten dazu gesagt? Sie hätten doch mit diesem Schleifchen und der Anstecknadel gar nichts anfangen können, hätten sie doch zu Hause gar nicht in die Vitrine zu den anderen Bonbonnieren aller anderen Hochzeiten in der Familie stellen können. Vielleicht hätten sie sogar gedacht, meine Familie könnte sich nicht einmal Bonbonnieren für die Hochzeit ihrer Tochter leisten.“
Maria macht viele Pausen, wenn sie über diese Dinge spricht. Sie muss aufpassen, dass ihre Gedanken nicht abschweifen. Es ist gefährlich, zu oft schon hat sie sich in Erinnerungen verloren und keine Luft mehr bekommen, um weiterzusprechen. Sie fühlte sich erdrückt von dem, was alles nicht geschehen ist. Wie ein Fisch, den man aus dem Aquarium gezogen hat, an der Luft erstickt.
Es gelingt ihr, von dem Vormittag zu erzählen. Sie war mit den Bonbonnieren nach Hause gekommen, die sie selbst ausgesucht hatte, die aber genauso aussahen wie die, die sie mit Gaetano in Rom gesehen hatte. Das Hochzeitskleid hatte sie noch nicht gekauft, aber schon drei Modelle anprobiert, und eines gefiel ihr besonders.
„Mein Bruder ging ans Telefon, es war Gaetanos Mutter, und er rief nach mir. Er sprach noch mit der Signora, als er mir sagte, dass Gaetano verwundet sei, dass die Taliban einen Lastwagen angegriffen hätten, einen Panzer, in dem Gaetano war. Aber Gaetano fuhr doch gar nicht mit Panzern, auch nicht mit Lastwagen, er hatte mir nie ein Foto geschickt, auf dem er in der Nähe eines Panzerfahrzeugs zu sehen war. Sie haben es mir gleich gesagt und deshalb bin ich nicht gleich erschrocken. Ich schluckte trocken, aber mein Bruder sprach immer noch mit Gaetanos Mutter, und deshalb dachte ich, dass es nicht so schlimm sein konnte. Ich hatte mir vorgestellt, dass dir die schlechten Nachrichten langsam beigebracht werden. Dass die Carabinieri zu Gaetanos Mutter kommen würden, und sein Vater würde dann meinen Vater benachrichtigen, und mein Vater würde mich dann ins Wohnzimmer holen wie immer, wenn es um etwas Schlimmes geht, und er würde zu mir sagen: ‚Maria, ich muss mit dir reden.’ Bis dahin hätte ich längst kapiert, dass etwas Schreckliches passiert war. Aber so war ich gerade dabei, meine Bonbonnieren aufzuräumen, als mein Bruder, der noch am Telefon war, es mir so beiläufig sagte. Wer hatte damit gerechnet? Ich bin nicht einmal gleich erschrocken. Wir haben den Fernseher eingeschaltet, aber nichts, wir haben im Internet gesucht … nichts, die Telefonnummern, die man uns gegeben hatte, und Gaetanos Freunde angerufen: Niemand wusste etwas, niemand sagte etwas. Die ersten Informationen kamen schließlich im Fernsehen, erst danach haben sie uns angerufen und gesagt, dass Gaetano in einem Panzerfahrzeug gesessen hatte, das außerhalb Kabuls auf eine Mine gefahren war. Die war hochgegangen, das Fahrzeug hatte sich überschlagen und einer war tot, aber Gaetano hatte überlebt.“
In Wirklichkeit explodierte das gepanzerte Fahrzeug nicht durch eine einfache panzerbrechende Mine, sondern durch eine ferngesteuerte Bombe. Die Taliban hatten gewartet, bis der italienische Konvoi vorbeikam, und ihn dann in die Luft gejagt. Drinnen saßen vier Soldaten. Das Fahrzeug überschlug sich, ging in Flammen auf und explodierte. Das Trommelfell der Männer platzte sofort, sie hörten nichts mehr. Gaetano hatte keine Beine mehr, von der Hitze kauterisierten die Wunden und die Oberschenkelarterie. Das Feuer verlosch sofort, so dass er noch mehr litt, denn das Fahrzeug war nun ein glühender Ofen, Blechteile durchtrennten wie fliegende Säbel, was ihnen in den Weg kam. Die Explosion hatte einen Soldaten gegen das Wagendach geschleudert und ihm sofort das Genick gebrochen, zwei andere blieben unverletzt, Gaetanos Körper hing halb im Panzer, halb außerhalb.
Die Taliban hatten den Konvoi in die Luft gejagt. Gegen die Sprengladung nützte die Panzerung nichts. Das Fahrzeug wurde von unten aufgerissen, und die Splitter schossen herein.
„Sie hatten uns gesagt, dass er durchkommen könnte, so hatten sie gesagt …“
Im Ort hatten die Bewohner schon Spruchbänder für seine Begrüßung vorbereitet, die Angehörigen konnten kaum mehr das Haus verlassen, alle wollten Informationen, alle wollten wissen, wie es Gaetano ging.
„Sogar der Bankdirektor, der, der uns keine Hypothek hatte geben wollen, weil wir keine Sicherheiten bieten konnten. Auch wegen ihm hat sich Gaetano entschieden, Soldat zu werden, und ausgerechnet er kam immer zu meiner Mutter und sagte: Wegen der Hypothek für die jungen Leute können Sie auf mich rechnen, wenn der Hauptmann wieder zu Hause ist, kommen Sie einfach zu mir! Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt, aber so etwas tut eine Frau nicht.“
Nach der Ankunft aus Kabul wurde Gaetano in Rom ins Krankenhaus gebracht. Hier im Ort wurde schon ein Fest vorbereitet, sogar mit Feuerwerk, und die besten Pyrotechniker der Gegend waren bereit, ganz ohne Bezahlung zu arbeiten. Es herrschte Volksfeststimmung. Aber niemand kam heim. Gaetano war tot. Vielleicht war ihm nach dem Attentat nur noch die Luft für den letzten Atemzug in den Lungen geblieben, gerade so viel, dass in der ersten Verlautbarung stehen konnte, er sei nicht tot, dass es so aussah, als gebe es nicht allzu viele Tote an der Front. So ließ sich die Zahl der Toten strecken, einer nach dem anderen, nur einer pro Woche.
„Ich habe verstanden, dass er tot war, aus der Art, wie meine Mutter auf mich zuging. Sie hat mich umarmt, seit Jahren hat sie mich nicht mehr umarmt. Sie hat mich umarmt und mich gekämmt, denn sie weiß, wie langsam ich reagiere. Nach einer Weile habe ich angefangen, alles kaputtzumachen, was mir in den Weg kam, den Fernseher und die Bonbonnieren habe ich vom Balkon heruntergeworfen, nichts mehr sollte von Gaetano übrigbleiben. Auch die Sachen nicht. Auch ich nicht.“
Maria bestand darauf, dass sie ihn sehen wollte, ihn sehen musste, dass es ihr Recht war, ihn zu sehen. Aber sie wollten ihr seinen toten Körper nicht zeigen. Auch der Tod hat seine Regeln. Die Leiche eines Soldaten darf niemand anschauen, der die Grausamkeit des Krieges nicht kennt. Marias Familie wollte nicht, dass sie sich dem zerfetzten Körper näherte. Gaetano lag in einem römischen Militärkrankenhaus aufgebahrt. Wie alle Toten. In einem Raum, der mit seinen weißen Kacheln und dem Geruch von Desinfektionsmitteln Tausenden von Leichenhallen in Krankenhäusern glich. Es war wenig übrig von ihm, zu wenig. Gaetanos Bruder hatte ihn gesehen, um ihn zu identifizieren, hatte ihn aber nicht berühren dürfen, selbst ein Kuss auf die Stirn hätte das bisschen Haut gelöst, das an den Knochen klebte. Maria insistierte. Sie wollte ihn sehen, wollte ihm ein letztes Mal begegnen. So aber sollte sie ihn nicht sehen. Deshalb trafen sie eine Vereinbarung, von der Art, wie man sie einem Menschen abringt, der keine Kraft mehr hat, dem die Tränen in den Augen stehen und die Stimme versagt, der aber trotzdem nicht von seinem Vorhaben abzubringen ist. Gaetanos Bruder begleitete Maria in die Leichenhalle, hielt ihr aber die Hand vor die Augen. Eine Hand, die verhindern sollte, dass Maria auch nur für einen Augenblick die Lider öffnete. So hat er sie an den Tisch geführt, in Gaetanos Nähe.
„Ich weiß nicht, wie er zurückgekommen ist, ich habe nicht gesehen, wie sie ihn mir zugerichtet haben. Es war da ein scheußlicher Geruch, wie wenn die Haut eines Hühnchens verbrennt. Das war aber nicht sein Geruch. Ich habe gespürt, dass er da war, ich habe ihn dort gespürt, ganz nah bei mir. Ich habe gespürt, dass etwas von ihm überlebt hat. Es war, als hätte ich ein Zimmer betreten, in dem er war.“
Maria presste die Hand von Gaetanos Bruder so fest, dass sich ihre Fingernägel, so lang und gepflegt, wie es sich für eine Braut gehörte, tief in die Handfläche von Gaetanos Bruder eingruben. Der aber sagte nichts oder spürte es nicht.
Gaetano war mit der erklärten Absicht zum Militär gegangen, sich für eine Mission zu melden. Er trainierte nicht mehr in der Sporthalle, wo er zu den Besten gehört hatte. Man glaubt, man verdingt sich wegen des Geldes. Allzuoft wird dafür das Wort Söldner gebraucht. Söldner. Das klingt gut, kraftvoll, grausam und gerade kritisch genug. Es schwingt eine gewisse Romantik mit. Wer kämpft, sollte das nicht für Geld tun, sondern aus Vaterlandsliebe. Das ist wirklich zum Lachen. Wenn junge Männer hierzulande im Streit einen anderen Söldner nennen, ist das für sie keine Beleidigung. Denn es ist eigentlich unverständlich, warum ausgerechnet Soldaten als einzige nicht für Geld arbeiten sollten. Wer an den Missionen teilnimmt, verdient das Dreifache, manchmal sogar das Vierfache des normalen Soldes. Dazu kommt noch alles andere. Das andere ist die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, etwas zu tun, das einem Respekt verschafft, weil man sich für etwas engagiert. Man kriegt Ferien und ein dreizehntes Monatsgehalt, man gilt etwas und genießt Anerkennung, und man sieht etwas von der Welt. Einige wollen auch einfach wissen, was ein Krieg wirklich ist, wie es ist, wenn man schießt und auf einen geschossen wird. Eindringen, zuschlagen, sich der Gefahr aussetzen. Für viele aber geht es darum, möglichst schnell mit heiler Haut wieder zu Hause zu sein. Und mit ein paar Fotos.
Während Maria mir von ihrer blinden Begegnung erzählte, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Aber dann hörte sie sofort auf zu weinen. Als ob sie beschlossen hätte, einen Damm gegen die Flut zu errichten, die in ihr aufstieg.
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Literaturangaben:
SAVIANO, ROBERTO: Das Gegenteil von Tod. Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann, Rita Seuß. Carl Hanser Verlag, München 2009. 72 S., 10 €.
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