Von Roland Böhm
MARBACH AM NECKAR (BLK) – Es ist eine seltsame Erbschaft. Vielleicht die merkwürdigste, die aus dem George-Kreis um den Dichter Stefan George (1868-1933) auf die Nachwelt gekommen ist: 191 Porträtskulpturen von Mitgliedern aus dem elitär denkenden Kreis sind auf einem riesigen Tisch im Literaturmuseum der Moderne in der Schillerstadt Marbach am Neckar (Baden-Württemberg) aufgereiht. Erstmals sei das bildnerische Erbe des George-Kreises in so großem Umfang sichtbar, betonte Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs. Die an diesem Donnerstag (13. März 2008) beginnende Ausstellung „Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung“ wirft einen neuen Blick auf die Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, um die sich viele Legenden ranken.
Der Maler Erich Heckel (1883-1970) ist dabei, der Schriftsteller Ernst Morwitz (1887-1971) und der Jurist Berthold von Stauffenberg (1905-1944) ebenso – und immer wieder der Lyriker und „Meister“ George selbst. Aus Holz, aus Stein, aus Gips. Es hat auch was Beklemmendes, all diese Köpfe dicht an dicht auf dem 5 mal 25 Meter großen Tisch. 13 thematische Kapitel mit Büchern, handschriftlichen Zeugnissen und zahlreiche bisher unbekannte Fotografien zeichnen den Mythos „George-Kreis“ nach.
Die 191 Köpfe, geschaffen, um große Einzelne zu verkörpern, werden zum Ausdruck einer ästhetischen Gemeinschaft. Diese verschrieb sich über Jahrzehnte hinweg dem Ziel, einen „Staat“ aus Dichtern und Künstlern zu bilden – gemeinsam ein „geheimes Deutschland“ zu verkörpern. Zwar sei für jene Dichter, Wissenschaftler und Künstler, die sich in den 1910er und 20er Jahren um den „Meister“ George scharten, die Wirkung des Wortes von größter Bedeutung gewesen, betonte Raulff. „Von 1913 an strebte der Kreis aber auch nach einem bildnerischen Ideal.“
Die meisten Skulpturen stammen von den Bildhauern Ludwig Thormaehlen (1889-1956), Alexander Zschokke (1894-1981) und Frank Mehnert (1909-1943). Autodidakten. „Die Qualität der Skulpturen wirft die Frage auf: Wie konnten sich formbewusste Sprachartisten und Philologen ersten Ranges mit den eher mittelmäßigen Kunstübungen dieser drei Bildhauer zufriedengeben?“, fragte Raulff.
Die Antwort sieht der Direktor in Georges Platon-Lektüre: Mit der Weiterentwicklung seines Kreises zu einer Bildhauerschule sei George zu den Griechen getreten. „So wurde in der George-Schule nicht nur zu einer bestimmten Kunst der Anschauung erzogen (George richtig sehen), sondern auch zu einer Kunst der verbalen Wiedergabe (George richtig beschreiben). Später kam der dritte Ausbildungszweig hinzu: George richtig bilden.“ Die Exposition dauert bis zum 31. August.
Stefan George und der „George Kreis“
STUTTGART (BLK) – Der Dichter Stefan George (1868-1933) war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine der markantesten Persönlichkeiten der deutschen Literatur. George gilt als bedeutendster Lyriker des Symbolismus und später auch der Neoromantik. 1892 erschien die erste Ausgabe seiner „Blätter für die Kunst“. Das Organ stand im Mittelpunkt einer Gruppe von elitär denkenden Dichtern, Künstlern und Gelehrten, die sich um George scharten. Sie nannten ihn „Meister“, die Treffen des „George-Kreises“ entwickelten rituell-kultischen Charakter.
Aus dem Jugendlichen Maximilian Kronberger schuf George den Mythos „Maximin“, erhob ihn zum neuen Gott seiner Religion. Als Prophet verkündete George das kommende neue Reich, das den göttergleichen Menschen hervorbringen sollte. Georges Auffassung von der Kunst als „Reich des Geistes“ über allem Gesellschaftlichen und sein geistiger Führungsanspruch machten den Dichter schon zu Lebzeiten zu einem Reizthema. Seit den späten 1960er Jahren wurde er immer häufiger als machtbesessene krankhaft eitle Person präsentiert. (dpa/wip)
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