HAAS, EVE: Das Geheimnis des Notizbuchs, Heyne Verlag, München 2011, 368 S., 12,00 €.
Von Sibylle Peine
„Sie war wirklich bezaubernd. Fast glaubte ich, sie mir zuzwinkern zu sehen - als wollte sie mich in ihr Leben locken. Mit tiefem Augenaufschlag, unschuldig, fast scheu, blickte sie mich aus dem kleinen Bilderrahmen an.“ So beginnt die Geschichte zwischen Eve Haas und ihrer Ururgroßmutter Emilie von Ostrowska. Was die Nachfahrin beim ersten Betrachten des Porträts bereits ahnt, wird geschehen: Die geheimnisvolle Emilie lockt Eve in ihr Leben, bis diese darin ganz und gar aufgeht. Sie will die rätselhafte Geschichte ihrer Ururgroßmutter entschlüsseln.
Es wird eine lange Suche. Sie führt nicht nur in verstaubte Archive und unwirtliche Orte in der DDR, sondern auch in die Tiefen und Untiefen preußisch-deutscher Geschichte und in die Abgründe der NS-Zeit. Eve Haas wird das düstere Ende ihrer Großmutter im KZ enthüllen, aber auch erfreuliche Entdeckungen machen. Die vielleicht überraschendste: Die Londoner Hausfrau hat eine piekfeine adelige Verwandtschaft, darunter nicht nur die Hohenzollernfamilie, sondern auch die Queen.
„Das Geheimnis des Notizbuchs“, das der Heyne Verlag jetzt in deutscher Fassung herausgebracht hat, ist kein Roman, sondern ein Sachbuch, das Tatsachen dokumentiert. Diese Tatsachen allerdings sind geradezu romanesk. Das Buch ist ein gutes Beispiel dafür, dass die schönsten Geschichten immer wieder das Leben selbst schreibt. Die heute 86-jährige Eve Haas hat die meiste Zeit in England gelebt, doch wurde sie in Breslau geboren und verbrachte ihre Jugend in Berlin.
Ihr Vater Hans Jaretzki war Bauhaus-Architekt. Wegen ihrer jüdischen Abstammung verließ die Familie in der Nazi-Zeit Deutschland und zog nach London. Nur Großmutter Anna blieb zurück und wurde später in Theresienstadt ermordet.
Als Eve Haas 16 Jahre alt ist, zeigt ihr Vater ihr ein altes Notizbuch. Darin steht die Widmung: „Die schöne Besitzerin dieses Buches ist mir kostbarer als mein eigenes Leben - August, Dein Beschützer“. Der Besitzer des Notizbuches war Prinz August von Preußen (1779-1843), Neffe Friedrichs des Großen. Dieser Haudegen, der sich vor allem in den Befreiungskriegen militärische Meriten erwarb, war auch als Frauenheld berühmt. Neben zahlreichen Liebschaften hatte er zwei langjährige Beziehungen zu bürgerlichen Frauen, denen eine große Nachkommenschaft entsprang.
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Das Notizbuch enthüllt nun eine weitere innige Liebesbeziehung zu Eves Ururgroßmutter Emilie. In der Familie galt sie immer als Jüdin und so auch alle ihre Nachfahren, was zu verhängnisvollen Konsequenzen in der Nazizeit führen sollte. Doch als Eve Haas den Dingen auf den Grund geht, stellt sich heraus, dass Emilie in Wahrheit eine polnische Adlige war. Warum wurde das vertuscht und warum trug ihre Tochter aus der Verbindung mit dem Prinzen den Namen des jüdischen Schneiders Gottschalk? Dies sind einige der Fragen, denen Eve Haas in ihrer jahrzehntelangen Recherche nachgeht.
Der Leser begleitet sie auf dieser kriminalistischen Reise. Mindestens ebenso spannend wie die verschlungene Historie um Emilie sind dabei die skurrilen Erlebnisse der Familienforscherin. Denn zu ihrem Pech beginnt Eve Haas mit ihren Recherchen mitten im Kalten Krieg. Das wichtigste Archiv mit Dokumenten zum Hohenzollernprinzen befindet sich ausgerechnet in Merseburg. Welcher absurden Anstrengungen, Glücksfälle und britischen List es bedurfte, die Mauern aus Renitenz und bürokratischer Bräsigkeit zu durchbrechen - das allein ist schon die Lektüre des Buches wert.
Weblink: Heyne Verlag