Von Roland H. Wiegenstein
Als die geistvoll-graziöse „Novelle“ von 1573 über den „unglücklichen Fortunatus“ (sie gilt als erste in der englischen Literatur) 2007 auf Deutsch erschien, herausgegeben von Kurt Kreiler, konnte man fast sicher sein, dass da noch mehr käme. Nämlich: „Der Mann, der Shakespeare war – Edward de Vere, Earl of Oxford“ ; die ausführliche Biografie zu der These, die Kreiler seit Jahren verficht: der Verfasser des „Fortunatus“, Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, sei der wahre Shakespeare, der sich das Pseudonym des Händlers, Wucherers und Schauspielers aus Stratford-upon-Avon habe gefallen lassen, weil es für einen Angehörigen des Hochadels, zu dem de Vere gehörte, ungehörig gewesen sei, etwas anderes als beiläufig geschriebene Lyrik zu veröffentlichen. Dramen aber waren Arbeit und als solche eines Earl nicht würdig.
Die Theorie geistert schon lange durch die Shakespeare-Forschung (und sie verfügt mit der „De Vere-Society“ und deren „Newsletter“ über eine „Gesellschaft“ und ein Publikationsorgan, so wie des die Shakespeare-Anhänger auch haben.) Dass der nach allem, was dokumentiert ist, ungebildete, allenfalls kaufmännisch erfahrene „Shakespeare“ einen großen Korpus von Stücken (und dazu noch viele Sonette) geschrieben haben könnte, das haben schon früher viele gebildete Leute (unter ihnen Nietzsche und Sigmund Freud) bezweifelt, aber die Zahl der Anwärter (um die fünfzig) war groß genug, um die Einwände solcher Leser immer wieder beiseite zu schieben. Der wichtigste: 1623, als das große Folio mit bis dahin unbekannten (oder wenig bekannten, nicht aufgeführten) Stücken erschien, war „Shakespeare“ schon sieben, der erste Anwärter auf die wahre Autorschaft, eben der Earl of Oxford schon neunzehn Jahre (!) tot. Wenn man Kreiler Glauben schenkt, und dafür gibt es für ihn und für die Leser seines Buches viele gute Gründe, dann muss man die Chronologie der Stücke des Elisabethaners neu schreiben, dann steht nicht mehr „Der Sturm“ am Ende – wie die Literaturgeschichte das lehrt – sondern „König Lear“, das erstere Stück wäre dann bereits zwischen 1583 und 1587 entstanden, das letztere aber um 1604.
Kreiler erzählt ausführlich die Geschichte von Edward de Vere, dem weltläufigen, weitgereisten Lord-Kämmerer der Krone, einem enorm gebildeten, mit den besten Gelehrten und mächtigsten Fürsten der Zeit vertrauten Hofmann und Freigeist, der viele Sprachen sprach, oder mindestens lesen konnte, der eine große Bibliothek besaß, sein enormes Vermögen freigebig verschwendete, der „jungfräulichen Königin“ treulich diente, und den seine gebildeten Zeitgenossen für einen bedeutenden Dichter hielten, auch wenn unter seinem Namen kaum etwas erschienen war. Mindestens seine höfische Umgebung habe immer gewusst, dass er der wahre „Shakespeare“ war. Unser Autor verfolgt peinlich genau jedes Indiz, das für ihn spricht – es sind viele! – er zerlegt Widersprüche durch eine enorme Literaturkenntnis auch abgelegenster Schriften der damaligen Zeit, scheut vor Mutmaßungen (auch sie plausibel!) nicht zurück und er weiß auch, warum es zu den Verwechslung kam: die Familie de Vere hatte daran ein nicht geringes Interesse und der Bearbeiter der ersten halbwegs zuverlässigen Ausgabe, der Dichter und Dramatiker Ben Johnson auch. Kreiler nennt das „eine große Verwirrung“ und in der Tat kann einem schwindelig werden ob der vielen handfesten Indizien und der spannenden Konjekturen, die Kreiler offenbar in jahrelanger Arbeit gesammelt hat. „Bewiesen“ (im juristischen Sinn) hat er nichts, aber seine Schilderungen, Ableitungen, Zitatsammlungen sind schlagend. So ganz nebenbei löst er auch das Rätsel der „Schwarzen Dame“ aus den Sonetten und gibt Hinweise darauf, wo weitere Forschungen trotz einer unübersehbaren Shakespeare-Literatur erforderlich wären.
„Shakespeare verfolgt keine Mission. Er zeichnet den Menschen in seiner Abgründigkeit, seiner Paradoxie, seiner Ausgesetztheit und seiner Tiefe. Da er ohne Ideologie ans Werk geht, erfindet er die Geschichte der Beziehungen nicht neu, sondern radikalisiert das in ihnen angelegte Potential von Verletzung und Selbsterkenntnis. Ihn beschäftigt die Realität der menschlichen Beziehungen, das Spiel von Verlust und Ent-Täuschung, Macht und Ohnmacht – ihn interessiert, was für die Menschen wahr wird, wenn sie an der Wirklichkeit zu leiden beginnen... Er ist, auf der Spur des einen Geistes – und des einen Gottes – zugleich immer auch der Andere, weil er die Anderen in sich vereint.“ Schreibt Kreile und schickt die Kritiker in den Orkus, denn: „Die Folge: Dreihundert Jahre lang hielt man den Earl of Oxford für einen Abseitigen und Halbkriminellen – und den Mann aus Stratford für das Genie vom Dorf“. Dass der ewig Verschuldete kein Halbkrimineller war, sondern ein hochgeschätzter Edelmann, das wird in dieser Biografie, die auch ein lebhaftes Porträt des elisabethanischen England zeichnet, vollends deutlich. Das Genie saß am Hof.
Die Causa dürfte damit nicht endgültig entschieden sein, dazu ist die Literaturgeschichte zu mächtig – aber es wird schwer sein, Kreilers Plädoyer zu entkräften.
Literaturangabe:
KREILER, KURT: Der Mann, der Shakespeare erfand – Edward de Vere, Earl of Oxford. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009. 595 S., 29,80 €.
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