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Das Gold in der Seele

Der Begriff des Glückes als Betrachtungsgegenstand

© Die Berliner Literaturkritik, 04.06.09

MÜNCHEN (BLK) — In der Deutschen Verlags-Anstalt wurde im Juni 2009 Mathias Schreibers Buch „Das Gold in der Seele“ veröffentlicht.

Klappentext: Immerhin 24 Prozent der Deutschen, so eine vom SPIEGEL in Auftrag gegebene Umfrage, halten ihr gegenwärtiges Leben für sehr glücklich. Aber was ist überhaupt Glück? Und ist, wer Glück hat, auch glücklich? Ist Glück schicksalhaft? Sinnfragen wie diese werden immer häufiger gestellt, seit die großen Gesellschaftsentwürfe verblasst sind. Mathias Schreiber zeigt, welche Antworten Philosophie, Religion und Psychologie geben und was wir selbst tun können, um diesem Lebensziel ein Stück näher zu kommen.

Mathias Schreiber, geboren 1943 in Berlin, war 14 Jahre lang Leiter des Kulturressorts beim SPIEGEL und ist nun Autor des Magazins. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind philosophische und ideengeschichtliche Themen. Er veröffentlichte Bücher über Lyrik-Theorie, moderne Kunst und Architektur. Zuletzt erschien bei DVA „Was von uns bleibt. Über die Unsterblichkeit der Seele“ (2008). (köh/mül)

Leseprobe:

©DVA©

Annäherung an das Glück

Immer wieder missbraucht, und dennoch jungfräulich: das uralte Zauberwort Glück. Es funkelt hart und hübsch wie eine bunte Glaskugel, die das Licht einsammelt. Und es erzählt viele Geschichten. Zum Beispiel diese aus dem Jahr 1923: Ein Brot kostet in Deutschland 320 Millionen Mark, ein Mittagessen 200 Millionen; Kohlen, Wohnungen, Arbeit — alles Mangelware. In einem Dorf bei Darmstadt wird, mitten im heißen Juli, einer Mutter nach Wehen, die schon den dritten Tag andauern, ein Junge aus dem Leib geholt, vom Hausarzt, der muss den Kopf in die Zange nehmen und ziehen. „Meine Mutter“, erinnert sich dieser Junge 71 Jahre später, „hatte große, aber leere Brüste. In der weiteren Verwandtschaft fand sich eine hochschwangere Frau, aus deren flacher Brust sich zwei Milchquellen überreich ergossen. Diesem glücklichen Umstand verdanke ich eine Amme, mit der ich mich bis zu ihrem Tod verbunden fühlte. Ihr Sohn war mein Milchbruder, eine biedermeierliche Institution. Wir saßen nebeneinander auf vielen Schulbänken.“ Der dies schreibt, ist viele Jahre lang der bedeutendste deutsche Theaterkritiker, Autor des berühmten Schauspielführers Spielplan: Georg Hensel (1923 bis 1996). Seine Lebensbilanz, ein großes „Buch von der Angst vor dem Tod und von der Sehnsucht nach Glück“ (Marcel Reich-Ranicki), trägt den Titel Glück gehabt (1994).

Glück, das heißt hier: Er ist noch einmal davongekommen, mehr oder weniger zufällig. Und er hat emotionale Höhepunkte erlebt wie jenes „herzausweitende Glücksgefühl“, das ihn einmal durchrauscht, als er an einem Fallschirm hoch über der Bucht von Acapulco schwebt, über diesem „sinnverwirrend blauen Meer“, wo er die „Ur-Lust“ empfindet, „von oben hinunterzuschauen“, von diesem extremen „Fluchtort im Unverbindlichen“. Fluchtort im Unverbindlichen: fast schon eine Definition des Glücksgefühls. „Glück gehabt“ ist für die Erinnerungen eines Deutschen, der auch von Hitlerjugend, Naziterror und Krieg erzählt, eine kühne Titelwahl. Hensel trifft sie in einer Zeit, deren Kulturklima noch beherrscht wird von der Empörung über der Deutschen „Unfähigkeit zu trauern“, entsprechend der 1967 publizierten, jahrelang eifrig zitierten Diagnose der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich. Autoren dieser Jahre denken etwa so wie Hensels langjährige Nachbarin, die Schriftstellerin Gabriele Wohmann: „Fürs Schreiben ist Glück unergiebig.“ Das hat sich seitdem gründlich geändert. Warum und inwiefern, wird noch zu erörtern sein. Georg Hensels Glücksbiografie ist ein besonders prägnantes Beispiel aus der Vergangenheit. Glücksgeschichten, die sich in jüngster Zeit zugetragen haben, unterscheiden sich von der Hensels vor allem durch eines: Sie sind selten der Not oder der Angst vor dem Kriegstod abgetrotzt, sie eignen sich kaum für das Motto „Wir sind noch einmal davongekommen“. Die meisten Glücksgeschichten von heute sind sozusagen saturiert — Glückserfahrungen, die in der Regel einem Leiden auf hohem zivilisatorischen Niveau entrissen werden.

Das Glück der Anerkennung

Es gibt so viele Glücksfälle, und sie fallen so unterschiedlich ins Leben, dass eine kompakte Definition unseres Schlüsselbegriffs kaum möglich zu sein scheint. Das Wort „Glück“ benennt einen Fund, zugleich aber bezeichnet es etwas Gesuchtes, ist es ein Suchwort: Angel und Fisch in einem. Immerhin widerlegt die Vielzahl und Vielfalt der So-oderso-Glücksgeschichten anschaulich den alten Verdacht, wer vom Glück rede, schüre bloß eine billige Illusion und bediene bestenfalls existenziellen Eskapismus, eine dem Menschen natürliche, aber verwerfliche Fluchtbewegung. „Glück“, das hatte viele Nachkriegsjahre lang den biederen Beigeschmack von Glücksfee und Glücksklee, Glücksstern und Glückskäfer, Glückstag und Glücksspiel, das war etwas für den schematischen Glückwunsch zum Fest. Bei Menschen mit intellektuellem Anspruch hatte das wackelige Wort kaum Kredit, denn es verfehlte grundsätzlich den Anspruch, irgendetwas Scharfsinniges, Realistisches, Kritisches und Verallgemeinerungsfähiges zu der Frage beitragen zu können, was aufgeklärte Zeitgenossen vom Leben überhaupt wollen — und was sie wollen sollten, damit ihr Leben sinnvoll ist und einigermaßen „gut läuft“. Die vermeintlich naive Rede vom Glück überließ man vermeintlich schlichten Leuten, einem Außenseiter wie dem Schriftsteller Ludwig Marcuse oder Kalendern und Postkarten mit Herzchen drauf. Gegen all dies muss gesagt werden: Wir sollten Respekt vor dem Glück haben — vor dem Thema und dem guten, alten Wort. Es hängen so viele Geschichten daran, so viele Aspekte, so viele Ideen und Fragen, um die es schade wäre, folgten wir den Verächtern der Glücksphilosophie, zu denen ja nicht nur der wunderbare Pessimist Arthur Schopenhauer gehört.

Wir werfen die Angel einfach mal aus: Bei einer dieser realen Glücksgeschichten, die wir erzählen können, geht es um die Besten der Besten. Nicht die viel beschworene neue Elite, sondern Hübscheres: Pferde, jene mythenumrankten Vierbeiner, die seit knapp 5000 Jahren dem Menschen dienen und auf ihre Weise zu seinem Glück beitragen — der altgriechische Sonnengott Helios fährt vierspännig über den Himmel, in anderen Kulturen gilt eine Stute als Amme des Menschen, Pferde tragen oft die Seelen Verstorbener in sich, viele stolze Rösser wurden ihren herrschaftlichen Besitzern mit ins Grab gegeben, weil sie innig mit ihnen verbunden waren und ihnen noch im Jenseits als Reittiere zur Verfügung stehen sollten. Noch heute gilt ein elegantes, temperamentvolles, gut gebautes, artgerecht ausgebildetes und verlässliches Reitpferd als wertvolles Kulturgut, dem ein wohl aus dem Arabischen stammender Spruch mit dem Reim huldigt: „Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde“ (Tierfreunde variieren ihn etwas bösartig: „Das größte Glück der Pferde ist der Reiter auf der Erde“). Ein besonderes Glücksspiel für Käufer und Verkäufer von Pferden sind die regelmäßigen Auktionen aus jener Zucht, deren Individuen weltweit begehrter sind als deutscher Elitenachwuchs: Hannoveraner. Unter der Obhut des Hannoveraner Verbands werden jedes Jahr rund 1500 — zuvor getestete — Reitpferde versteigert, die meisten in der niedersächsischen Kleinstadt Verden an der Aller. Zwei der vier großen Auktionen, die dort jährlich stattfinden, tragen die Vorsilbe „Elite“, weil eine Expertenkommission dafür nach besonders strengen Kriterien jeweils gut hundert Pferde auswählt — aus mindestens doppelt so vielen, die ihnen von Züchtern angeboten werden.

An einem Spätnachmittag im Oktober 2007 galoppieren die Preise so lustig davon wie lange nicht. In der schwülen, bis auf den letzten der rund 4000 Plätze besetzten Halle bietet der Auktionator, ein silberhaariger Endfünfziger mit der durchdringenden Stimme eines Nachtclubanimateurs, ein edles Ross nach dem anderen feil. Nach jedem Gebot derselbe Verführertrick, dieselbe Litanei: „Zum Ersten … zum Zweiten … zum Dritten“. Wenn keiner, auch nicht ein Amerikaner, mehr bietet, folgt das schicksalhafte „zum letzten … zum aller-, aller- …allerletzten … Mal“. Der Hammer fällt: „Verkauft“. In den Applaus mischen sich Pfiffe, hier ein „Ah“, dort ein „Oh“. Und schon trabt das nächste Pferd in die Bahn und wird von einem professionellen Auktionsreiter in den Grundgangarten Schritt, Trab und Galopp kurz vorgeführt. Aber diesmal gibt es eine Verzögerung. Der Auktionator wartet ein bisschen. Denn der Züchter der soeben versteigerten, fünfjährigen Fuchsstute („toller Schritt“), der kleine 62-jährige Reinhold H., tanzt und hüpft, während im Hintergrund ein Extratusch eingespielt wird, mit hochrotem Kopf am Rand der Arena hin und her, als habe ihm seine Angebetete gerade das Jawort gegeben. Er umarmt Freunde, greift nach dem Sektglas, jubelt und ruft mehrfach: „Das ist der glücklichste Augenblick meines Lebens.“ Sein Dressurpferd, von der Zuchtlinie her ein klarer Außenseiter, hat mit einer Preissumme von 400 000 Euro die Goldmedaille dieser Veranstaltung gewonnen. So teuer wechselt hier nur alle paar Jahre mal ein Vierbeiner den Besitzer. Es ist der Spitzenpreis dieser Auktion; der höchste Gewinn, der bei der darauf folgenden Eliteauktion im März 2008 erzielt wird, beträgt wenig mehr als die Hälfte. Der Glücksschrei des Züchters galt gewiss nicht nur dem ordentlichen Geldbatzen, der mit der Auszeichnung einhergeht. Er ist schließlich kein armer Bauer, für den 400 000 Euro einem Lottogewinn gleichkommen, sondern ein wohlhabender Bürger, der nur im Nebenberuf Pferde züchtet. Sein spontaner Ausruf gilt vor allem dem überraschenden Triumph seines vierbeinigen Schützlings, dem Zugewinn an Beachtung in diesem Gewerbe (das den Seiteneinsteiger gern belächelt), dem unerwarteten Lohn für jahrelange Mühsal und Tüftelei, dem Erfolg einer von den Experten kaum empfohlenen Kombination einer bestimmten Hengstlinie mit einer bestimmten Stutenfamilie. „Na, was sagt ihr jetzt?!“ Das Glück des trotzigen Außenseiters.

Die meisten Pferdezüchter auf dem Land sind schon froh, wenn die vier- bis sechsjährigen Dressur- oder Springpferde, die sie großgezogen und ausgebildet haben, bei der Verdener Eliteauktion überhaupt akzeptiert werden, und in der Regel zufrieden, wenn sie dann Preise zwischen 15 000 und 60 000 Euro erzielen. Oft wechseln die Pferde für sehr viel weniger den Besitzer, und die frustrierten Züchter fahren mit null Gewinn nach Hause. 400 000 Euro dagegen sind nicht nur viel Geld, sondern auch ein Mehrwert an Prestige und Ruhm, der in diesem Fall über Europas Grenzen hinausreicht: Die Käufer waren US-Amerikaner. Woraus besteht in diesem Beispiel also das Glück? Aus dem materiellen Gewinn einerseits, vor allem aber aus der Anerkennung einer über Jahre hinweg erbrachten Leistung, die dem Anerkannten ein bestimmtes Ansehen in einer professionellen Gruppe beschert — sie hat ihn bisher nicht übermäßig ernst genommen. Diese Anerkennung sichert Zugehörigkeit und schützt vor jener Einsamkeit, die jeden Menschen — und jedes Menschen Glückschance — bedroht. Zugleich aber, und das ist entscheidend, zielt die Anerkennung hier nicht bloß auf Äußerliches, auf irgendeinen Besitz, den der Anerkannte den anderen voraushat, sondern auf das, was er ist; auf seine Kennerschaft, seine Leidenschaft, sein Können als Züchter, auf einen Vorzug, der durchaus zu seiner existenziellen Selbsteinschätzung beiträgt. Diese Anerkennung hinterlässt mithin etwas Bleibendes im Anerkannten, während Anerkennung für irgendeinen beneidenswerten Besitz in dem Moment schal wird, in dem der Besitzer das entsprechende Gut verliert. Auch das emphatische Glücksgefühl, das den beglückten Pferdezüchter einige Augenblicke lang so hinriss, gehört zu diesem Glück, aber es ist nicht dessen eigentliche Substanz.

Um die unerwartete Anerkennung einer Leistung dreht sich auch die folgende Glücksgeschichte: Der dreißigjährige Mannheimer Hochschulassistent Richard M. will an einem Donnerstagabend — der Tag war schwül, die Woche anstrengend, die Studenten waren unaufmerksam — endlich nach Hause fahren. In der Tiefgarage unter dem Institutsgebäude gleitet ihm der Autoschlüssel gleich zweimal aus der Hand, er ist genervt und müde, niemand würdigt, so scheint es ihm, seine besondere pädagogische Bemühung, das Informatikseminar so lebendig und verständlich wie nur möglich abzuhalten. Plötzlich, er will sich gerade hinter das Steuer schieben, jault das Handy. Es ist ein sehr kurzes Gespräch — das Gespräch seines Lebens: „Wir wollten Ihnen nur mitteilen, dass die Professorenstelle, für die Sie sich beworben haben, an Sie vergeben wurde.“ Die trocken schnarrende, bemüht sachlich klingende Stimme einer nicht mehr ganz jungen Dame der Universitätsverwaltung bringt noch ein knappes „Glückwunsch“ zustande und fragt, ob es irgendwelche organisatorischen Fragen gebe, er müsse nun wohl von Mannheim nach Greifswald umziehen („frische Seeluft“). Es gab erst einmal keine weiteren Fragen. Aus dem Abstand von ein paar Jahren erzählte er: „Ich konnte mich nicht bewegen, meine Glieder waren taub, ich stand unter Schock, nur ganz allmählich strömte das Blut, das Gefühl in meinen Körper zurück. Ich stand reglos im Neonlicht der muffig riechenden Garage und reiste in Gedanken weit zurück in meine Kindheit. Damals rieten Grundschullehrer meinen Eltern, mich auf die Hauptschule zu schicken. Der Junge sei sonst überfordert, hieß es. Auch wilde Hausaufgabenkämpfe mit meinem Vater kamen mir in den Sinn: Einmal rannte er brüllend und rot vor Wut mit dem Lateinbuch hinter mir her, die Nachbarn klopften erbost gegen die Wand. Später, während meines Studiums, coachte er mich fast täglich am Telefon. Aber nach dem Examen liefen meine Bewerbungen zunächst ins Leere, die Professorenstelle, von der ich träumte, schien längst in weite Ferne gerückt. Doch jetzt, nach dem Anruf, war alles anders; ich erkannte: All das Kämpfen mit mir selber und gegen andere hatte sich tatsächlich gelohnt. Ein einziger Glückseligkeitsschauer rann mir über den Rücken, alles schien plötzlich zusammenzupassen, wie ein kosmisches Quiz, dessen Regeln man für einen winzigen Moment durchschauen darf. Ich wusste nun: Ich, diese schwierige, störrische Person, hatte all diese Hindernisse und Mühen überstehen müssen, hatte mir dieses Glück, das mir heute widerfahren war, verdienen müssen, um es entsprechend würdigen zu können.“

Für den Informatiker Richard M. hat sich damit, wie er sagt, sein „Leben entscheidend verändert“. Worin bestand das Glück, das er angesichts der Professorenstelle empfand? Gerade nicht in dem besseren, nun endlich gesicherten Einkommen, das Frau und Kind gewiss beruhigte. Sondern darin, dass er seit damals ein anderes Verhältnis zu sich selbst gefunden hatte. Die „große, unerwartete Anerkennung“ habe ihm unendlich gut getan, diese triumphale Krönung einer oft frustrierenden Laufbahn, auf der er nur in Trippelschritten voranzukommen schien. Wenn er nur an die vielen netten Wegbegleiter zurückdenke, die regelmäßig an seiner Kompetenz gezweifelt hatten — und jetzt: Er, ausgerechnet er war einer der jüngsten Universitätsprofessoren Deutschlands geworden.

In der Tat ist der Kampf um Anerkennung, wenn er erfolgreich ausgeht, für den Menschen eine der ergiebigsten Quellen des Glücks; und gleichzeitig kann er, wird er vergeblich gekämpft, zu einem der bösesten Hindernisse auf dem Weg zum Glück werden. Solange die Anerkennung durch Mitmenschen fehlt, vermögen nicht einmal Geld und Luxus, die landläufig als Glücksfaktoren gelten, einen Menschen glücklich zu machen. Jener legendäre Arbeitslose, genannt „Lotto-Lothar“, der 1994 — zusammen mit seinem Bruder — den mit 7,8 Millionen Mark gefüllten Lotto-Jackpot gewann und sich sogleich mehrere Pferde und einen luxuriösen Sportwagen zulegte, wurde nicht glücklich; er betrank sich pausenlos, überwarf sich mit seiner Frau und starb fünf Jahre nach dem Lottogewinn an einer Leberzirrhose. Vermutlich war es die Anerkennung einer beruflichen Leistung an einem einigermaßen gerecht besoldeten Arbeitsplatz, das Gefühl, wirklich irgendwo gebraucht zu werden und darum geschätzt zu sein, was ihm fehlte. Plötzlich war er — ohne eigenes Zutun — beliebt, konnte sich aber kaum selbst lieben. Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung waren nicht in der Balance. Und so verlor er den Halt.

Obwohl der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) geschrieben hat: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks“, hat er sich in einem Gedankenexperiment die erste Begegnung zwischen zwei Menschen — gewissermaßen als Urszene der Gesellschaft — als „Kampf auf Leben und Tod“ um Anerkennung, also um ein Glücksmotiv, ausgemalt. „Anerkennung“ meint dabei nicht den bloßen Applaus der Außenwelt, der jeder ernsthaften, stoisch stolzen Existenz gleichgültig sein kann. Der Begriff „Anerkennung“ zielt hier auf eine existenzielle Bejahung des Selbst, nicht auf den flüchtigen Ruhm dessen, der im täglichen Wettstreit um die Münze Aufmerksamkeit siegt. Selbstanerkennung, vertieft zu einer das jeweils Eigene bejahenden Selbstfindung, ist stets auch Abgrenzung vom „Anderen“, vom anderen Selbst wie vom dinghaften Nicht-Selbst. Echte Selbständigkeit des Geistes erfordert das „Tun des Anderen“, letztlich den „Tod des Anderen“, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807), im Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ zuspitzt. Zunächst wird damit der geistige Prozess beschrieben, in dem das Selbstbewusstsein sich selbst gegenübertritt und dieses zweite Selbst dann als fremdes „negiert“, weil es in Wahrheit ja das eigene ist. Aber gewiss zielt der Denker damit zugleich auf das Urverhältnis zwischen zwei Individuen mit Selbstbewusstsein. Das Individuum muss sein Leben gegen das des anderen „wagen“ und sich in diesem „Kampf“ „bewähren“, sonst bleibt seine Freiheit „abstrakt“. Eine Freiheit, die nicht von anderen Freien aufgrund einer konkreten Auseinandersetzung anerkannt wird und diese anderen Freien auch selbst als Freie respektiert, ist nicht „lebendig“; ohne die so verstandene, wechselseitige Anerkennung der verschiedenen Freien gibt es keine Freiheit, kein wirklich selbstbewusstes Ich, keine Selbstverwirklichung — kein Glück. Das gesellschaftliche Gegenbild dazu ist das Verhältnis zwischen dem Führer und den Massen, die ihm auf Befehl zujubeln — alles andere als ein Glücksbild.

Auch Hegel weiß: Anerkennung allein macht nicht glücklich. Denn Selbstbewusstsein heißt ja erst einmal: Das Bewusstsein ist „in sich entzweit“, also strukturell „unglücklich“, wie Hegel sagt. Der Grund: Das Ich weiß sich spontan zugleich als einfaches Ich-Wesen, das unwandelbar, mit sich selbst identisch ist, und als wandelbares, vielfach beeinflussbares, insofern unwesentliches Ich, das unter wechselnden Umständen „in die Existenz“ tritt und erst wesentlich, das heißt: konstant mit sich eins zu werden versucht. Das sind zwei „Ichs“ mit Selbstbewusstsein! Eines „schaut in ein anderes“: das Unwandelbar-Unmittelbare in das Werdende und Strebende. Das so vom Anfang her entzweite Bewusstsein in eine lebenssatte Einheit hinüberzuführen, das wankelmütige Ich in ein konstantes Ich einzufahren wie die Ernte in die Scheune — das wäre das wahre Glück des Geistes.

Es erscheint uns als sehr fernes Philosophenglück, nicht illusionär, doch schwer erreichbar. Auf jedermanns Leben ist davon gleichwohl die Lehre anwendbar: Dem wie auch immer Anerkannten verschafft die Anerkennung kein Glück, wenn er mit sich selbst überwiegend „entzweit“ ist, im Streit liegt. Wenn er das, was er von Tag zu Tag tut, mit dem, was er dauerhaft will, in keiner Weise versöhnen kann; wenn er sich selbst nicht wirklich anerkennen kann sowie wenn er diejenigen, die ihn bejahen, gar nicht schätzt — das Grundproblem des Tyrannen, der die, die ihn aus Not anerkennen, nicht anerkennen kann, weil sie zu dem, was sie ihm entgegenbringen, gezwungen wurden. Und wenn einer bei allem sozialen Erfolg begründete Angst hat, unter seinen Möglichkeiten zu bleiben oder schon morgen tief zu fallen, ist das Glück der Anerkennung bereits brüchig. In diesem Fall sabotiert die skeptische Selbsteinschätzung die Zustimmung der Umwelt, so groß sie auch sein mag.

©DVA©

Literaturangabe:

SCHREIBER, MATHIAS: Das Gold in der Seele. Die Lehren vom Glück. DVA, München 2009. 256 S., 19,95 €.

Weblink:

DVA


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