WIEN (BLK) – Im August 2008 ist das Sachbuch „Leben spenden – Was Menschen dazu bewegt, Gutes zu tun“ von Slavenka Drakulic im Zsolnay Verlag erschienen.
Klappentext: Im September 2004 musste sich Slavenka Drakulic in den USA einer Nierentransplantation unterziehen. Es war nicht ihre erste. Das Besondere daran: Die Niere stammte nicht von einem verstorbenen oder verwandten, sondern von einem freiwilligen, anonymen Spender, der noch lebt. In ihrem höchst aktuellen Buch geht Slavenka Drakulic der zentralen Frage nach, die eine sogenannte Lebendspende aufwirft: Warum riskieren Menschen ihre Gesundheit? Ist es purer Altruismus? Wie gehen Spender und Empfänger damit um? Im Gespräch mit Christine, ihrer eigenen, ursprünglich anonym bleiben wollenden Spenderin, und anderen zeichnet die Autorin ein vielschichtiges und komplexes Bild von Menschen, die ein humanes Gewissen besitzen und sich zu einer Organspende entschließen. Erst ihre Krankheit habe ihr die Möglichkeit gegeben, sich Gedanken zu machen über das Gute und auf die hellen Seiten des Lebens zu achten. Ein persönliches und fachkundiges Buch, das aufrüttelt.
Slavenka Drakulic wurde 1949in Rijeka geboren. Sie ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Kroatiens, ihre Romane und Sachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt, acht davon bisher ins Deutsche. Sie schreibt als Journalistin für internationale Tageszeitungen und Zeitschriften, darunter auch für die „Süddeutsche Zeitung“. 2005 wurde Drakulic für ihr Buch „Keiner war dabei - Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Leseprobe:
© Zsolnay Verlag ©
christine
Da war sie, in einem Rollstuhl, der von einer Krankenschwester in mein Zimmer geschoben wurde.
Seit Tagen verzehrte ich mich vor Neugier auf sie. Ich wollte sehen, was für ein Mensch über so viel Großzügigkeit verfügte. Seit man mich von der Transplantation in Kenntnis gesetzt hatte, versuchte ich immer wieder, mir ihr Gesicht vorzustellen. Als ich am Tag meiner Operation in die Aufnahmestation gelangte, betrachtete ich unauffällig die Frau neben mir: eine junge Frau, die eine große Tasse Milchkaffee in der Hand hielt und abwesend daran nippte. Ob sie es war? Würde ich sie erkennen? Würde sie in ihrem Aussehen irgendetwas Besonderes haben? Könnte ich es an ihrem Gesichtsausdruck oder ihrem allgemeinen Verhalten ablesen? Die Ungewissheit, der Umstand, dass es jede Frau sein konnte, die ich auf dem Weg zu meiner Operation sah, frustrierte mich. Ich wollte sie kennenlernen. Aber sie mich auch? Sie hatte keinerlei Verpflichtungen mir gegenüber. Sie konnte einfach nein sagen. Was hatte sie schließlich für einen Grund, mich kennenzulernen? Sie wollte einfach irgendjemandem helfen, der eine Niere brauchte, nicht mir im Besonderen.
Jetzt sah ich sie endlich vor mir, eine gut aussehende junge Frau, mit einem fein geschnittenen, blassen Gesicht, intensiven grünen Augen und kurzem, blondem Haar. Sie trug ein einfaches graues Sweatshirt und eine blaue Jogginghose. Etwas nach links gebeugt, hielt sie die Hand auf der Operationswunde, die ihr weh tat, wie ich wusste, denn meine tat es auch. Obwohl sie saß, sah ich, dass sie groß und schlank war. Hier kommt mein persönlicher „Engel“, dachte ich. „Christine Swenson“, sagte sie einfach und gab mir die Hand. Sie hatte einen festen Händedruck. Wie wunderbar, dass ich jetzt ihren Namen kannte – staunend betrachtete ich sie. Sie blickte mich an. Das Krankenzimmer war voller Menschen – ihre Mutter, ihr Stiefvater, eine Krankenschwester –, doch in diesem Augenblick sah ich nur sie. Ich blickte sie lange an, zumindest muss es den anderen lang erschienen sein. Christine persönlich zu begegnen, war die ungewöhnlichste, seltsamste Erfahrung meines Lebens. Ich weiß nicht, wer von uns zuerst lächelte, vielleicht haben wir beide gleichzeitig gelächelt. Ein kostbarer, freudiger Augenblick, als wir beide bemerkten, dass wir keine Fremden mehr waren, dass wir uns mochten.
Ihre Eltern, die gekommen waren, um sie abzuholen, hatten sie in mein Zimmer begleitet. Sie stellten sich selbst vor, die Mutter Nancy, von der Christine das Aussehen hatte, und ihr hochgewachsener Stiefvater, der seine Baseballkappe höflich abnahm, als er eintrat. Dann lehnten sie sich beide an die Wand – das Zimmer war klein, es gab keine Stühle – und schauten mich an, die Empfängerin der Niere ihrer Tochter. Einen Augenblick herrschte verlegenes Schweigen. Völlig absurde Gedanken gingen mir durch den Kopf – was für einen Eindruck ich auf sie machte und ob sie mich wohl mochten. Ich wünschte mir sehnlichst, dass ihnen allen der Mensch zusagte, der das Geschenk erhalten hatte. Ich muss entsetzlich ausgesehen haben: Mein Haar war fettig, mein Gesicht von den Medikamenten aufgedunsen, und überall ragten Schläuche aus meinem Körper. Das Zimmer roch nach Desinfektionsmitteln, Schweiß und Medizin – kaum der passende Schauplatz für das Wunder eines neuen Lebens. Nicht ein einziger Sonnenstrahl drang durch das große Fenster, nur ein graues Licht, das hereinsickerte und die Wände färbte, sodass es uns noch schwerer fiel, etwas Schönes oder Bedeutungsvolles zu sagen.
Ich wurde von einem Gefühl für Christine überwältigt, das nicht nur Dankbarkeit, sondern auch Zärtlichkeit war. Was mich am meisten überraschte und womit ich nicht hatte rechnen können, war der Umstand, dass sie so viel jünger war als ich. Wie meine Tochter, dachte ich und fragte mich noch nachdrücklicher, wie ihre Mutter wohl dazu stand. Außerstande, irgendwelche anderen angemessenen Worte zu finden, sagte ich einfach: „Danke. Ich danke Ihnen, dass Sie mir das Leben gerettet haben.“ Christine blickte mich an, und ich sah, dass sie errötete. Sie muss gedacht haben, dass ich zu theatralisch sei, dass ich viel zu große Worte machte für das, was sie getan hatte. Gut, sie hatte vielleicht mein Leben erleichtert, aber gerettet? Doch ich wusste besser, was eine erfolgreiche Transplantation wirklich für einen Menschen in meiner Situation bedeutete.
Ich wusste nichts über Christine, so wenig wie sie über mich. Rasch, fast atemlos, als sei ich in großer Eile, als sei das meine einzige Chance, sie für mich zu gewinnen, berichtete ich ihr von meinem fünfundzwanzigjährigen Kampf, mit Hilfe der Hämodialyse zu überleben, bevor die erste Transplantation vorgenommen wurde, dann von der erneuten Dialyse. Ich vermute, ich wollte ihr irgendwie beweisen, dass ich ihre Niere verdiente, dass ich in all diesen Jahren genug gelitten hatte. Es war, als wäre sie der Richter, der entschieden hatte, dass ich es sein sollte. Aufmerksam lauschten die drei meiner Stimme, der Stimme mit dem seltsamen Akzent einer Frau, die aus einem fernen Land irgendwo in Europa gekommen war, und ich konnte sehen, dass sie bewegt waren. Ihre Mutter Nancy hatte Tränen in den Augen. Jack sah mich sprachlos an.Christines Gesicht ließ keine Gefühlsregungen erkennen, während sie mir konzentriert zuhörte. Vielleicht war meine Geschichte zu viel für sie?
Ich wollte so vieles über Christine erfahren, über ihre Familie – sie erzählte mir, dass sie einen Mann und zwei Kinder hatte – und wie sie zu dem Entschluss gekommen war, eine Niere zu spenden. Vor allem aber wollte ich wissen, warum sie die Entscheidung getroffen hatte. Obwohl sie noch nie von dieser Möglichkeit gehört hatte, bevor sie einige Monate zuvor einen Artikel im Providence Sunday Journal gelesen hatte, war ihr erster Gedanke bei der Lektüre, wie sie mir berichtete, dass sie das auch tun könnte.
Ich hatte diesen Artikel schon gelesen, weil einer der Ärzte ihn mir am Tag zuvor gegeben hatte. Die Geschichte meiner zweiten Transplantation beginnt eigentlich am 11. Juli 2004. An diesem Tag veröffentlichte das Lokalblatt einen langen Bericht über die einundzwanzigjährige altruistische Lebendspenderin Kristy Olivet. Sie wollte eine Niere spenden und wandte sich ans Rhode Island Hospital, nicht nur weil sie in Providence lebte, sondern auch, weil sie gehört hatte, dass die Transplantationsabteilung des Krankenhauses ein derartiges Programm hatte. Die Ärzte gelangten zu dem Schluss, dass ihre Niere für den fünfundsechzigjährigen Albert Raposa geeignet sei. Nach der Lektüre dieses Zeitungsberichts meldeten sich fünf Frauen und zwei Männer im selben Krankenhaus als Nierenspender (leider waren ein Mann und eine Frau nicht geeignet). Ich war erstaunt und fand es äußerst ungewöhnlich, dass ein einziger Artikel in einer regionalen Tageszeitung solche Wirkung hatte. Einen Augenblick war ich sogar stolz, Journalistin zu sein, trotz des Zynismus, den Journalisten häufig als eine Art Nebenwirkung ihres Berufs entwickeln. Wie der Zufall es wollte, war Christine eine dieser fünf Frauen. In meiner Vorstellung versuchte ich zu rekonstruieren, wie sie zu ihrem Entschluss gelangt war. Sie erzählte mir, dass sie in der Nachmittagsschicht als Hilfspflegerin in einem Pflegeheim arbeitete. Nach zwanzig Uhr, wenn ihre Schutzbefohlenen bereits in den Betten liegen und allmählich einschlafen, ergibt sich für die Pflegerinnen die Gelegenheit, eine Tasse Kaffee zu trinken, etwas zu plaudern und die müden Füße auszuruhen. An diesem Sonntag war es einfach nicht möglich, die Zeitung zu lesen, sagte sie. Mr. Green hatte Atembeschwerden, Mrs. Wilson musste der Rücken abgerieben, ein neuer Patient beruhigt und Mr. Donnell gefüttert werden. Sie hatte ihnen allen ihre Medikamente zu verabreichen und sie zu Bett zu bringen. Aber Christine beklagte sich nicht. „Ich liebe meine Arbeit“, erklärte sie mir. „Es macht mir Freude, Menschen zu helfen.“ Als sie sich am Abend hinsetzte und nach der Zeitung griff, fiel ihr die Schlagzeile auf der Titelseite ins Auge. Dort stand: „Begegnung mit ihrem Engel“. Das Foto auf der Titelseite zeigte einen älteren Mann in einem Krankenhausbett, der ein Mädchen umarmte, während seine Frau sie weinend beobachtete.
Als Christine den Artikel las, dachte sie sofort: „Ich könnte das Leben eines Menschen retten.“ „Einfach so?“, fragte ich sie, immer noch ungläubig, wie ich zugeben muss, obwohl ich ihre Niere schon in meinem Körper trug. Christine sah mich mit ihren schönen grauen Augen an, die sofort etwas dunkler wurden. Doch vielleicht geschah es nur in meiner Vorstellung, oder es lag an einer Wolke, die vorbeizog und einen Schatten in das Zimmer warf. Einen Augenblick schwieg sie. Ihre Antwort war entwaffnend: „Ja, einfach so“, sagte sie mit einem eher schüchternen Lächeln. Sie sagte es, als bedürfe es eigentlich keiner Erklärung für eine solche Tat – wer braucht schon eine Erklärung?
© Zsolnay Verlag ©
Literaturangaben:
DRAKULIC, SLAVENKA: Leben spenden. Was Menschen dazu bewegt, Gutes zu tun. Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober. Zsolnay Verlag, Wien 2008. 224 S., 17,90 €.
Verlag