Von Gisela Ostwald
NEW YORK (BLK) - In einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa sprach der 77-Jährige über die Krankheit und ihre Folgen.
Was hat sich für Sie verändert, seit sie 2005 die Krebsdiagnose bekamen. Hat sich ihr Hirn an den einseitigen Verlust der Sehkraft gewöhnt?
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Sacks: „Ja und nein. Ich mache nicht mehr so viele Fehler im Alltag. Anfangs habe ich beim Einschenken von Wein immer daneben gegossen. Das passiert inzwischen seltener. Aber ich vermisse die Dimensionen. Ich kann keine Tiefe wahrnehmen. Dafür habe ich eine merkwürdige Erscheinung: Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich haargenau das vor mir, was ich zuletzt im Blick hatte. Aber nur für etwa zehn Sekunden. Und wenn ich abends vom Bett aus an die Decke schaue, ist sie mit Strichen, Formen und Buchstaben übersät. Ich nehme an, dass die Hirnregion, die Einzelheiten der Umwelt wie ein Puzzle zusammenfügt, bei mir überaktiv ist.“
Sie finden bei Ihren Fallstudien immer einen Aspekt, der es dem Patienten leichter macht, mit seiner Krankheit umzugehen. Sehen Sie diesen Aspekt auch bei sich?
Sacks: „Noch nicht. Aber es stimmt. Ich habe schon 1969, als ich das Buch über Migräne schrieb, einen Mathematiker behandelt. Er hatte jeweils am Wochenende schwere Migräneanfälle. Sobald die Attacken nachließen, fühlte sich mein Patient von Energie und neuen Ideen wie überflutet. Meine Behandlung befreite ihn von den Schmerzen, nahm ihm aber auch die Kreativität.“
Ist das menschliche Hirn noch vorwiegend ein Rätsel?
Sacks: „Die zwei neuen Imaging-Technologien sowie Aufnahmen von einzelnen Nervenzellen haben unsere Kenntnisse vom Hirn revolutioniert. Nichtsdestotrotz sind noch fundamentale Fragen zu lösen. Wir brauchen Verfahren, die die wahre Komplexität unseres Gehirns enthüllen. Möglicherweise müssen wir uns auf Gruppen von Zellen beschränken, etwa auf eine Million Gruppen von jeweils Tausenden Zellen, die über Billionen Nervenleitungen miteinander verknüpft sind.“
Das klingt nach spannender Forschung. Wie kommt es, dass Sie nicht im Labor arbeiten?
Sacks: „Ich habe vor gut 40 Jahren in der Forschung gearbeitet. Aber ich war sehr tollpatschig. Es war eine Katastrophe. Schließlich hat man mir gesagt: Verschwinde und kümmere Dich um Patienten. Ich habe 1966 erstmals Kranke behandelt und hatte das Gefühl: Das ist es, das kann ich. Bald darauf habe ich auch mit dem Schreiben begonnen.“