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Das „andere“ Jahrhundert

Jürgen Osterhammels Geschichte des 19.Jahrhunderts

© Die Berliner Literaturkritik, 18.03.12

OSTERHAMMEL, JÜRGEN: Die Verwandlung der Welt – eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Verlag C.H.Beck , München 2010. 1568 S., 28 €.

Von Roland H. Wiegenstein

Als 2005 Daniel Kehlmann in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ das 19. Jahrhundert an zwei emblematischen Figuren exemplifierte, dem Mathematiker Carl Friedrich Gauss und dem Weltreisenden Alexander von Humboldt, verlangte sein kluges, ironisches Buch geradezu nach einer Ergänzung: die Weltgeschichte des „langen Jahrhunderts“ (von 1789-1914) war als „Verwandlung der Welt“ zu schreiben. Zwar hatten C.Bayly und Eric Hobsbawm in bedeutenden Werken dazu die Grundlagen geschaffen, aber es blieb Jürgen Osterhammel vorbehalten, in seinem Buch genau diese „Veränderung“ in allen Facetten dingfest zu machen. Die Arbeit eines Forscherlebens: 1305 eng bedruckte Seiten, dazu 260 Seiten Anmerkungen, Literaturangaben, Register – schwer wie ein Wackerstein, wurde es 2010 in einer einbändigen im Preis reduzierten Ausgabe nach der ersten von 2008 neu veröffentlicht. Diese hatte die ungeteilte Zustimmung der Fachwelt gefunden, die sich den Konstanzer Lehrstuhlinhaber als sehr weisen, sehr alten Mann vorstellte (geboren wurde er 1952.).

Das Buch handelt in einer großen „Erzählung“ (besser: vielen Erzählungen, die sich zu einer großen summieren) eben von der „Verwandlung“. Detailverliebt und in keiner Weise eurozentrisch, versucht es uns beizubringen, was und wie viel sich verändert hat: nämlich - wenn man an den eher gemächlichen Fluss der Zeit davor erinnert - alles! Oder doch so viel, dass das 20. Jahrhundert darauf aufbauen konnte, ohne dass allzu viel Neues hinzugekommen wäre. Allenfalls Fortschreibungen des bereits Vorhandenen (etwa in der Technik und den Naturwissenschaften) und die Verbrechen sind unübersehbar größer geworden, und auch sie wären ohne die Fakten und Gedanken dessen, was sich wirklich abgespielt hat und gedacht worden ist, nicht möglich gewesen.

Enttäuscht wäre nur, wer diese große Studie ereignisgeschichtlich und chronologisch zu lesen versuchte. Osterhammel geht anders vor: er nähert sich dem Thema durch historische Reflexion auf die eigene Wissenschaft, er räsonniert über „Chronologie und Epochencharakter“ des „langen Jahrhunderts“, die „Raumordnungen“ der bewohnten Welt und darüber, wie wir historische Kenntnisse erwerben. Dann aber geht er zu „Panoramen“ über, zugespitzten Einzeluntersuchungen über Sesshaftigkeit und Mobilität (dass das Jahrhundert eines der Beschleunigung war, ist evident, aber Osterhammel belässt es nicht bei dem, was offensichtlich ist: er schreibt von Sklavenhandel und Emigrationen und ihren „globalen Motiven“. Er untersucht den (wachsenden) Lebensstandard, die Gegenden, in denen er erreicht wurde, und die Tendenzen zur Verstädterung (die erst im 20.Jahrhundert auf den Höhepunkt kamen), beschreibt imperiale und koloniale Stadtentwicklungen.

Ein besonderes Kapitel beschäftigt sich mit den „Frontiers“, den Landnahmen, etwa in den USA und so ganz nebenbei ergibt sich daraus auch einiges über amerikanische Psychologie, das hilft, diese besser zu verstehen. Natürlich gilt dem Jahrhundert der Imperien seine besondere Aufmerksamkeit. Der Zugriff Europas (und Englands im besonderen) auf „die Welt“ wird ausführlich behandelt und die vielen kleinen Kriege in einem im Ganzen friedlichen Zeitabschnitt, in dem bewaffnete Auseinandersetzungen meist jenseits der europäischen Grenzen ausgefochten wurden, oft genug durch Diplomatie kalmiert, ebenso wie die Revolutionen in den Blick geraten, von denen die Staatenwelt durchgeschüttelt wurde. In diesen „Panoramen“, die Asien (vor allem China, Japan und das Osmanische Reich) das selbe wissenschaftliche Interesse zubilligen, wie den Zuständen vor der europäischen Haustür und in denen die verschiedenen Deutungsansätze der historischen Wissenschaften ausführlich diskutiert werden in einer scharfsichtigen Selbstreflexion des Metiers, zeigt sich immer wieder die stupende Bildung des Autors, dem so leicht keine „Veränderung“ entgeht, auch wenn sie nur in nuce zu beobachten ist.

Den Panoramen folgen die „Themen“: die Quantensprünge der Industrie und dessen, was man seitdem „Kapitalismus“ nennt, die Rolle, die die in neuen Ordnungen sich vollziehende Arbeit einnimmt, nicht auf dem Feld, vielmehr in der Fabrik. Der neue Verkehr gehört zu diesen „Themen“ genauso wie die neuen Hierarchien, die Vermehrung des Wissens und das, was Osterhammel die „Zivilisierung“ nennt, von der (langsamen) Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft, wobei die, die Macht hatten, sie abzuschaffen, sich um die Entlassenen häufig nicht kümmerten, vielmehr anstelle der alten Verachtung der Sklaven die neue „rassischer“ Distinktion trat, die im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebte. Erstaunlich, wie sich im säkularen Jahrhundert die Religion neue Betätigungsfelder (und Glaubensinhalte) schaffte. 

Osterhammel lässt nichts aus: es ist wirklich eine „Weltgeschichte“ geworden, die sich durch fünf Merkmale von allen früheren Beobachtungsgegenständen unterscheidet: das Jahrhundert der „asymmetrischen Effizienzsteigerung“, „gesteigerten Mobilität“, „asymmetrischen Referenzverdichtung“, auch eines der „Gleichheit“ und schließlich der „Emanzipation“. Für jedes der fünf Merkmale hat der Autor in seinem Buch die Belege ausgebreitet.

„Das 19. Jahrhundert hatte den Katastrophen seit 1914 den Weg gebahnt; Hannah Arendt und andere machten es dafür verantwortlich. Es hielt aber auch Traditionsbestände bereit, etwa den Liberalismus, den Pazifismus, den Gewerkschaftsgedanken oder einen demokratischen Sozialismus, die nach 1945 nicht völlig blamiert und hinfällig waren.“ Ihnen traut der Autor noch einiges zu. Der Sturm der Veränderung bläst weiter. Den Menschen ins Gesicht? Oder in den Rücken? Osterhammel macht keine Prognosen. Er zeigt, wo alles herkommt.


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