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Aus dem Nachlass von Georges Perec

Perec’ Sprachspiel „Über die Kunst seinen Chef anzusprechen“

Von: TOBIAS ROTH - © Die Berliner Literaturkritik, 22.10.09

Hinter dem bei Klett-Cotta erschienenen Buch „Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten“ steckt kein Beitrag zum anschwellenden Segment der Ratgeberliteratur. Auch kein Buch aus dem Kanon der klassischen Werke zur Lebensklugheit (Gracian, Schopenhauer ...), wie der ausgiebige, fast barocke Titel vermuten lassen könnte. Georges Perec, in dessen Nachlass man das kurze Buch vor kurzem entdeckte, ging es nicht darum, ernsthaft Rat zu geben: Diese heikle Kunst und Frage diente ihm vielmehr dazu, alle Möglichkeiten, die mit jenem Versuch einhergehen, auszuloten und aneinanderzureihen. Er wollte, wie es in Briefen Perecs heißt, nicht weniger, als zu einem vollständig linearen und dabei vollständig unlesbaren Text zu gelangen.

Das Ernstnehmen des Begriffs „vollständig“, die Herstellung nicht nur neuer Texte, sondern einer erzwungenen Erweiterung der Sprache selbst waren die Zielsetzung der „Werkstatt für potentielle Literatur“ (Ouvroir de littérature potentielle, kurz: Oulipo). Diese Werkstatt, die 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der unter anderem Künstler wie Marcel Duchamp und Italo Calvino angehörten, wollte durch strenge Regeln die Sprache und die Literatur erweitern. Georges Perec, der 1967 der Oulipo beitrat, schrieb so etwa einen Roman, in dem der Buchstabe e nicht auftaucht, oder einen Brief von mehr als 1300 Wörtern, der vollständig als Palindrom funktioniert. Im Unterschied zu Queneau, der gerne Eventualitäten zur Disposition stellte und die Kombination dem Leser überließ (exemplarisch seien seine „Hunderttausend Milliarden Gedichte“ von 1961 genannt), formulierte Perec gern alle Möglichkeiten aus. So auch in der „Kunst seinen Chef anzusprechen“.

Die Methode des Buches besteht in der vollständigen Ausformulierung eines umfangreichen Organigramms. Dieses Organigramm, dessen Thema mit dem Titel des Buches weitgehend identisch ist, wurde von Jacques Perriaud, einem Forscher am Maison de sciences de l’homme, entwickelt und von Perec verfeinert. In kleiner Schrift gesetzt füllt dieses Gebilde, wenn man es aus der schönen Klett-Cotta-Ausgabe gefaltet hat, eine gute DIN-A5-Seite. Perecs Text geht allen Möglichkeiten nach, spielt alle Verästelungen durch, die dieser gedankliche Plan der Eventualitäten bietet, und kurbelt sich dabei in eine ironische Groteske; der Leser wird durch konsequente Anrede zur Hauptfigur gemacht.

Der Text fließt ohne Absätze, ohne Zeichensetzung und ohne Großschreibung. Die Figur, die durch die Firma irrt und ein ums andere Mal in ihrem Ziel scheitert, wird zum Helden einer tragischen Komödie, die keine zeitlichen oder räumlichen Koordinaten besitzt, sondern den erbarmungslosen, weißen Raum der Möglichkeiten abschreitet:

„... wenn er nicht da ist warten sie seine rückkehr im flur ab wenn er auf sich warten lässt gehen sie zu mademoiselle yolande vorausgesetzt mademoisele yolande selbst ist in ihrem büro und hat überdies nicht allzu bösartige laune aber sie hat sich inzwischen an sie gewöhnt wenn sie da ist so gibt es daher grundsätzlich keinen grund weshalb sie sie verscheuchen würde wenn nicht so werden sie immer wieder eine runde durch die verschiedenen abteilungen drehen deren gesamtheit ganz oder teilweise die weitläufige organisation bildet in der sie den größten teil ihrer zeit verschwenden fragen sie auf gut glück hier oder da ...“

Das ironische Lächeln, das diesem Text eingeschrieben ist, verdankt sich vor allem der Tatsache, dass Perec die Pfade des Organigramms zwar abschreitet, aber nicht sklavisch am Wortlaut der Pfade festhält, sondern immer wieder das scheinbar Identische variiert. Bernard Magné spürt in seinem instruktivem Nachwort etwa der permutatorischen Maschinerie nach, mit welcher der Baustein der weitläufigen organisation“ immer wieder verändert und näher beschrieben wird. Auch spart Perec bei der strikten Ausführung des Plans nicht mit Scherzen. So wird inmitten der absurden Atmosphäre plötzlich auf einen Ausspruch Ionescos verwiesen oder es heißt bei der Aufzählung der Eventualitäten, ob und wie viele Töchter des Vorgesetzten Monsieur X gerade Masern haben könnten, unvermittelt, „dass monsieur x nur eine tochter hat aber es ist sehr viel wahrscheinlicher dass er vier hat das jedenfalls steht auf dem organigramm und derlei dinge erfindet man nicht“.

Natürlich geht der Protagonist in den Gängen und auf dem Flur verloren, aber die kafkaeske Atmosphäre hat eine unleugbar heitere Färbung. Es gelingt Perec, die Wiederholungen und die Anhäufungen der zu durchlaufenden Handlungen bis zur nächsten Entscheidung nicht quälend werden zu lassen, sondern ihnen jedes Mal die Frische des Anlaufs zu verleihen. Die Figur ist ein Strichmännchen, das immer wieder fällt und aufsteht, unbeugsam in einer schematisierten Welt. Dieses Buch ist sicherlich einige Ecken „härter“ als gewöhnliche, bestsellernde Erzähl- und Miterlebliteratur. Aber dennoch sei es nicht nur den Lesern empfohlen, die auch an Bernhards „Kalkwerk“ oder Becketts „Watt“ ihre Freude haben. Georges Perecs „Kunst seinen Chef anzusprechen“ ist großes absurdes Welttheater.

Literaturangabe:

PEREC, GEORGES: Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, mit einem Nachwort von Bernard Magné. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009. 112 S., 14,90 Euro.

Weblink:

Klett-Cotta Verlag

 

Tobias Roth arbeitet nach einem Studium in Freiburg als Schriftsteller, Literatur- und Musikkritiker in Berlin. Er ist mehrfacher Preisträger des Essay-Wettbewerbs der Goethe-Gesellschaft


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