Der Esel ist wie der Mensch ein Säugetier und bekannt für seine sprichwörtliche Dummheit. Stundenlang läuft er einem Köder in Form einer süß duftenden Möhre hinterher, die sein Herrchen an der Angel vor ihm aufgespannt hat und so mit List und Tücke die Sturheit des Grautiers überwindet. Der Esel hingegen sieht nicht nur stetig die unmittelbare Erfüllung seines Wunsches direkt vor den Augen, sondern glaubt auch, dass anscheinend nur noch ein paar Schritte ausreichen, um zum Erfolg zu gelangen, nur um schließlich doch wieder gemeinsam mit Sisyphos am Fuße des Berges zu stehen, die ewig ungelöste Herausforderung als Dauerprinzip. Schon gemein.
Das Gleichnis Esel-Möhre mag dem Interessierten Markus Wilds „Tierphilosophie“ näher bringen, ersetzen muss man nur den Esel mit dem Leser oder der Leserin und die Möhre mit der lobenswerten Idee, dem lecker duftenden Ansatz, dem fruchtbaren Kern dieses Buches, den man aber, auch das ist gemein, niemals zu fassen, geschweige denn zu schmecken bekommt.
Dabei fängt es so schön an, sieht die Möhre aus unserer Eselperspektive leuchtend orange und voller Vitalität aus; der Mensch als Tier, so Einleitung und Umschlagstext, sollen im Mittelpunkt dieser philosophischen Abhandlung stehen. Aus der menschlichen Tierperspektive dürfe man erkennen, dass eben alle anderen Tiere auch erkennen, oder, um es noch gewagter auszudrücken, dass sie auch denken können.
In dieser Hinsicht findet sich das Plausibelste gleich zu Beginn. Wild (auch aufgrund des Nachnamens hätte man letztlich mehr erwarten dürfen!) stöbert an der richtigen Stelle und präsentiert Michel Montaignes berühmte Gedankenspiele bezüglich eines Fuchses, der den zugefrorenen See erst dann überquert, nachdem er mehrmals innegehalten, seinen Kopf zur Eisdecke geneigt und behutsam gelauscht hat. Der Fuchs hat die von ihm benötige Sicherheit gefunden, er hat aus seinen Erfahrungen gelernt, setzt diese in der praktischen Form der „Erkenntnis“ um. Warum genau jener Vorgang vom Autor hier nicht unisono nachvollzogen wird, warum er uns Eseln die Möhre wieder wegzieht und uns zum entnervten Sisyphos degradiert, warum er in jedem Kapitel einen saftigen und toll aussehenden Ansatz parat hält, den er nicht konsequent verfolgt und sich stattdessen weiterhin zögerlich und furchtvoll hinter philosophischen Unklarheiten, Wortverdrehereien und menschlicher Hybris verschanzt, bleibt sein wildes Geheimnis.
Natürlich kann man ebenfalls gleich zu Beginn dieses schmalen Taschenbuches, dass zumindest vom Äußeren die an sich sehr interessante Junius-Verlags-Reihe „Zur Einführung“ sympathisch weiterführt (ein Schimpanse mit einer allzu echten, dem Menschen in nichts nach stehenden Denkermimik), hellhörig werden, müsste, mit entsprechendem Verstand ausgestattet, sich von diesem Herrscher-Beherrschten-Trick abwenden und erkennen, dass es dieser Autor nicht darauf anlegt, Menschen mit Tieren auf eine biologische und kognitive Stufe zu stellen. Jedes Tier, so der Autor, verfüge über besondere Fähigkeiten. Die Fledermaus praktiziere Schallortung, der Biber verdaue Holz, der Elefant trage Zähne aus Elfenbein. So ist es letztlich also nichts besonderes, besonders zu sein, weil jede Gattung dies nun einmal im evolutionären Überlebensdschungel zu sein hat. Allerdings, so Markus Wild, ist es „außerordentlich besonders ein Mensch zu sein.“ Hups. Wir wissen nicht wie rückständig solche Sätze auf postmoderne, dekonstruierte und ökologisch fairtrade handelnde Individuen unserer Zeit wirken, aber immerhin haben wir direkt vom Start weg die faire Gelegenheit, den faulen Möhrenzauber zu entlarven.
So setzt sich also unser beschwerlicher, konsequenterweise nie endender Weg durch den weiteren Verlauf dieses Werkes fort, ungefähr kurz vor der Hälfte, müsste der Letzte erkannt haben, dass wir so eigentlich gar nicht weiter kommen, und die Schrift eher als Einstiegswerk in bestimmte philosophische Strömungen betrachtet werden sollte. Heideggers „In-der-Welt-Sein“, Derridas Dekonstruktion der binären, hierarchischen Oppositionen oder auch Descartes, nach wie vor unangenehme Gefühle evozierende, maschinelle Vorstellungswelt werden von Wild, der immerhin wissenschaftlicher Assistent an der Berliner Humboldt-Uni ist, plausibel und fast leicht verdaulich serviert.
Auch die Reisen in anthropologische, soziologische, bio-psychologische oder ethologische Teildisziplinen gelingen, wir lernen Koryphäen wie Griffin, Lloyd-Morgan oder Seyfarth samt ihrer Postulate und spannenden Forschungsmethoden und Ideenansätze kennen, über allem dennoch die so inkonsequent gestellte Frage thronend: Können Tiere denken?
Warum aus dem Buch wirklich kein Meisterwerk werden wird, sei noch einmal an einem einfachen Beispiel erlaubt. Nach tausenden von Wörtern, verwirrenden Gedankenspielen, kognitiver Dauererregung und rationaler Wichtigkeit wird auf Seite 133 schließlich die Frage aufgeworfen, ob Tiere denn überhaupt Bewusstsein haben. Bislang habe man sich ja nur um die Fragen gekümmert (diese aber unzureichend und unbefriedigend beantwortet), ob Tiere Wüsche oder Gedanken haben, nun sei es an der Zeit die Frage nach dem Bewusstsein zu stellen.
Ja, diese durchaus berechtigte Frage kann man nachvollziehen, erwartet aber in einem wissenschaftlich fundierten Werk solche Grundsätzlichkeiten in den ersten Kapiteln - oder ist das Bewusstsein nicht offensichtlich der übergeordnete anstatt der untergeordnete Teil des Denkens?
Tatsächlich handelt es sich hier also bei diesem Werk mehr um eine subjektive Annäherung an ein durchaus spannendes Sujet als um eine konstruktive Expansion wissenschaftlicher Hermeneutik, die ja vor allen Dingen bei der ursprünglichen Frage der Hermeneutik über eben jene hinausgehen müsse, um den hermeneutischen, also „bedeutungsvollen“ Charakter zu verlassen. Dass Tiere ähnlich wie Menschen fühlen und erkennen, jedoch in scheinbar völlig unterschiedlichen Bahnen, muss man keinem Kind, keinem Tier, aber anscheinend doch so manchem Erwachsenen immer wieder klar machen und jedem gut gemeinten Versuch ist entsprechend Respekt zu zollen.
Dass der gut gemeinte Versuch hier in eine schlecht gemachte Umsetzung mündet, liegt letztlich wohl daran, dass Wild dem philosophischen Problem mit einem theologischen begegnet, das ihm den Zugang zur einfachen Wirklichkeit, zum elementaren Austausch mit dem Esel, zur Möhre in den Mund statt um den heißen Brei, verhindert. Der Ursprung, das Seiende, das Reine wird von Wild skurrilerweise mit „klassischerweise als Gott“ bezeichnet. Solcher Art Klassik ist ja hinlänglich bekannt, und demzufolge ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Möhre, die da taub und stumm vor uns hin- und herbaumelt, den tierischen Ursprung hinterhältig negiert.
Von Marco Gerhards
Literaturangaben:
WILD, MARKUS: Tierphilosophie zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2008. 232 S., 14,90 €.
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