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Das Leben des „Totkindes“

Per Olov Enquist schreibt einen Roman über sich selbst

© Die Berliner Literaturkritik, 07.04.09

 

Von Frauke Kaberka

Lange glaubt das Kind, es sei das “Totkind” – der Bruder, der zwei Jahre vor seiner Geburt zur Welt kam und sich gleich wieder verabschiedete. Trägt es doch den gleichen Namen wie der tote Bruder: Per-Ola. Ist er es etwa selbst und wieder auferstanden? Das Kind ist verwirrt, bleibt es lange...

Es ist eine ungewöhnliche Perspektive, aus der der Schriftsteller Per Olov Enquist zurückblickt, mehr als Beobachter und Außenseiter denn als Beteiligter. Er schreibt von sich in der dritten Person, was ihn ebenso vor Eitelkeit als auch vor verständnisheischender Selbstbezichtigung schützt. Sein Leben – „Ein anderes Leben“, wie der neue autobiografische Roman des Schweden heißt – gliedert er in drei Etappen: Unschuld, Ein hell erleuchteter Platz und Ins Dunkel.. Oder übersetzt: Kindheit, Erfolgsjahre, Absturz.

Unschuldig – das ist das Kind zweifellos. So unschuldig, dass es für die samstägliche Beichte bei der strenggläubigen Mutter sogar eine Sünde erfindet, damit es überhaupt etwas zu gestehen hat. Es ist rührend, wie der schüchterne Junge seinen Platz in der kleinen Welt, einem Dorf in Schweden, sucht und findet, wie er seine Fantasien verarbeitet, wie er seinen früh gestorbenen Vater zum Reisebegleiter macht, ihn in seiner Einsamkeit stets bei sich weiß.

Der Enge seines zweigeteilten Dorfes – in gottesfürchtig und gottlos – entkommt das Kind, indem es Karten zeichnet, die das dörfliche Universum in veränderten Dimensionen darstellt: Berge werden größer, Wälder ausgedehnter. In Gedanken kartographiert es auch die Familie. An dem Versuch, der Fantasie auch Realität beizumischen, scheitert es jedoch. Lange. Die wortkarge Mutter gibt kaum etwas preis – zum Seelenheil des Kindes, das einmal Lehrer oder Pastor werden soll.

Scheinbar unbeschadet wird das Kind erwachsen, wählt aber einen anderen Weg als den ihm von der Mutter vorbestimmten – und betritt den hellerleuchteten Platz. Der Mann sonnt sich im Erfolg als Sportler, später als Journalist. Er schreibt über die RAF, ist berichterstattender Zeuge des blutigen Attentats bei den Olympischen Spielen 1972 in München und feiert wenig später als Autor erste literarische Erfolge. Er erlebt sogar die Broadwaypremiere eines seiner Bühnenstücke.

Doch seine Geschichte ist keine wirkliche Erfolgsgeschichte. Der Mann schleppt zuviel seelischen Müll mit sich herum, um unbeschadet sein Leben zu leben. Was in seinem Inneren seit Jahren gärt, führt schließlich ins Dunkel – in den Alkoholismus. Er wandelt haarscharf am Rande des Abgrunds, ist dem Tod sehr nahe.

Das ist Enquists Leben. Aber so, wie er es beschreibt, sprengt er alle Dimensionen einer Autobiografie. Weil er seine dunkle Seite in den Vordergrund stellt. Aber auch, weil er sein Selbstporträt als Roman anlegt – und das höchst kunstvoll. Sein Satzbau vielleicht gewöhnungsbedürftig („Sie würde nur schnauben, wenn er sie fragte, wie ein Pferd.“), aber hinreißend, sein Inhalt traurig und oft komisch. Harte Wahrheiten werden leicht wie Schmetterlingsflügel – einzig durch die Poesie der Sprache.

Vielleicht erwarte man, dass er beim Schreiben des Buches gelitten und sich geschämt habe, sagt der Autor. Irrtum, er habe damit ein lustvolles Jahr verbracht. Scham und Leiden seien vorüber. Enquist hat seit fast 20 Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Für diesen Roman erhielt er den nach August Strindberg benannten August-Preis, den renommiertesten schwedischen Literaturpreis.

 

Literaturangaben:
ENQUIST, PER OLOV: Ein anderes Leben. Carl Hanser Verlag, München 2009. 544 S., 24,90 €.

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