MÜNCHEN (BLK) – Im April 2010 hat der Deutsche Taschenbuch Verlag „Das Leben kleben“ von Marina Lewycka herausgegeben.
Klappentext: Georgie Sinclair hat gerade ihren Mann vor die Tür gesetzt, ihr Sohn entwickelt eine beunruhigende Vorliebe für Weltuntergangs-Websites, und ihren Job bei einem Klebstoff-Fachmagazin findet sie auch nur bedingt faszinierend. Da trifft sie eines Tages Mrs Shapiro, die allein in einem halb verfallenen alten Haus lebt. Die verschrobene Dame ist Jüdin und im Zweiten Weltkrieg nach London geflohen. Als Mrs Shapiro ins Krankenhaus muss, bittet sie Georgie, sich um das baufällige Haus zu kümmern. Gleich mit ihrer ersten Tat setzt sich Georgie gehörig in die Nesseln: Der Handwerker, den sie mit Reparaturen beauftragt, ist keineswegs Pakistani, wie sie dachte, sondern Palästinenser. Eine potenziell heikle Konstellation. Zusätzliche Komplikationen ergeben sich durch zwei geldgierige Immobilienmakler, eine arglistige Sozialarbeiterin und Georgies Ehemann…
Marina Lewycka wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind ukrainischer Eltern in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und wuchs in England auf. Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter, lebt in Sheffield und unterrichtet an der Sheffield Hallam University. Ihr erster Roman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ wurde zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte, eroberte die internationalen Bestsellerlisten, wurde in 33 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. (jos)
Leseprobe:
©Deutscher Taschenbuch Verlag©
Klebrige Gerüche
Als ich Wonder Boy zum ersten Mal sah, pinkelte er mir ans Bein. Vermutlich sollte es eine Warnung sein, was ziemlich vorausschauend von ihm war, wenn man bedenkt, wie die Geschichte ausging.
Eines Nachmittags Ende Oktober hatte ich mich irgendwo zwischen Stoke Newington und Highbury im Norden von London in eine unbekannte Straße gewagt und zwischen zwei hohen Gartenmauern einen kopfsteingepflasterten Weg entdeckt. Nach fünfzig Metern öffnete sich der Weg auf einen runden grasbewachsenen Platz, und vor mir erhob sich eine große Villa mit zwei Giebeln, die halb verfallen, mit Efeu überwachsen und so versteckt hinter den Gärten der Nachbarhäuser war, dass man von draußen nie erraten hätte, was sich hier verbarg, hinter der wuchernden Ligusterhecke und einem Dickicht wilder junger Eschen und Ahornbäume. Ich ging davon aus, dass das Haus leer stand – wer konnte an einem solchen Ort wohnen? Am Torpfosten war eine Inschrift. Ich zerrte den Efeu zur Seite: Canaan House. Kanaan – der Name verströmte einen modrigen Hauch von Frömmigkeit.
Eine Wolke verschob sich, und ein niedriger Sonnenstrahl ließ wie durch einen Zaubertrick die Fenster aufleuchten. Dann verschwand die Sonne wieder, und im stumpfen Dämmerlicht sah ich bröckelnden Stuck, rohes Holz, wo die Farbe abblätterte, geflickte Fenster, kaputte Regenrinnen und eine stachlige Araukarie, die viel zu dicht am Haus gepflanzt war. Hinter mir fiel das Gartentor ins Schloss.
Plötzlich zerriss ein lautes Heulen die Stille, als weinte ein Kind. Es schien aus dem Dickicht zu kommen. Schaudernd zuckte ich zurück und rechnete halb damit, dass Christopher Lee mit blutigen Fangzähnen aus dem Gebüsch schnellen würde. Doch es war nur eine Katze, besser gesagt, ein großer weißer, brutal aussehender Kater mit drei schwarzen Pfoten und einem hässlichen Gesicht, der mit hoch erhobenem Schwanz aus den Büschen hervorstolzierte und mich mit seinem Blick aus funkelnden Augen durchbohrte.
„Hallo, Kater. Wohnst du hier?“
Er schlenderte heran, als wollte er sich an meinem Bein reiben, doch als ich mich bückte, um ihn zu streicheln, hob er den Schwanz, ein Zittern lief durch seinen Körper und ein starker Strahl Eau de Kater schwängerte die Luft. Bevor ich ihm einen Tritt verpassen konnte, war er schon wieder im Schatten verschwunden. Auf dem Rückweg durchs Gestrüpp roch ich seine Marke an meiner Jeans – ein stechender, klebstoffartiger Geruch.
©Deutscher Taschenbuch Verlag©
Literaturangabe:
LEWYCKA, MARINA: Das Leben kleben. dtv, München 2010. 460 S., 14,90 €.
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