Von Friedemann Kohler
Der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman (1905-1964) war ein Chronist der schlimmsten Schrecken des 20. Jahrhunderts. In seinem monumentalen Epos „Leben und Schicksal“ über die Schlacht um Stalingrad nahm er Täter und Opfer der Diktaturen in den Blick: Von Hitlers Konzentrationslagern und dem Holocaust über die Kriegsfront bis in Stalins Straflager reichte Grossmanns Sicht. Auf die Neuausgabe dieses Jahrhundertromans 2007 lässt der Claassen- Verlag jetzt den Band „Tiergarten“ mit Kurzprosa folgen. Herzstück der Sammlung ist der ergreifende Essay „Die Sixtinische Madonna“.
Bei „Leben und Schicksal“ wollte die sowjetische Zensur 1960 einen Skandal vermeiden, wie ihn Jahre zuvor Boris Pasternak und sein im Westen verlegter „Doktor Schiwago“ ausgelöst hatten. Das Manuskript des linientreuen Autoren und anerkannten Frontberichterstatters Grossman wurde beschlagnahmt. Grossman starb 1964 in Verbitterung. Erst 1980 fand „Leben und Schicksal“ über die Schweiz den Weg in die Öffentlichkeit.
Die Erzählungen in „Tiergarten“ entstanden parallel zu Grossmans Arbeit an dem großen Roman, sie lesen sich wie Skizzen oder Studien. Die wenigsten Stücke durften zu sowjetischen Zeiten erscheinen, Grossman schrieb für die Schublade. Er erzählt vom Alltag in der sowjetischen Klassengesellschaft: Funktionäre im Moskauer Wohlleben fühlen sich erhaben über die Armen vom Stadtrand („Im großen Moskauer Ring“) oder die Verwandten aus der Provinz („Einige traurige Tage“). Wie den zögerlichen Helden bei Anton Tschechow fehlt ihnen der Mut, das eine mitfühlende Wort, die eine menschliche Geste zu wagen („Phosphor“).
In anderen Erzählungen wählt Grossman ungewöhnliche Perspektiven zu seinem Hauptthema, dem Krieg. „Tiergarten“ schildert die letzten Kriegstage in Berlin aus der Sicht eines alten deutschen Tierpflegers im Zoo. Ein Maultier durchleidet als Lasttier der italienischen Truppen den Vormarsch von der sonnigen Heimat bis in die eisige russische Steppe („Die Straße“).
Grossman erzählt knapp, beiläufig, Schicksale und Charaktere werden nur angedeutet. Doch alle Erzählungen zeugen von seinem unerschütterlichen Glauben, dass menschliche Güte letztlich auch die schlimmste Niedertracht überwinden kann. Am bewegendsten zeigt sich dies in „Die Sixtinische Madonna“. Ausgangspunkt ist die Ausstellung von Raffaels berühmtem Gemälde 1955 in Moskau, bevor die Sowjetunion dieses Stück Kriegsbeute nach Dresden zurückgab. „Die Madonna mit dem Kind auf dem Arm steht für das Menschliche am Menschen, darin liegt ihre Unsterblichkeit“, sinniert Grossman vor dem Bild.
Mutter und Sohn treten ruhig und offen dem Schicksal entgegen, so bitter es auch sein mag. Grossmann sieht die beiden auf allen Schauplätzen des Schreckens. In seiner Vorstellung schreitet die Madonna furchtlos von der Rampe in die Gaskammern des Lagers Treblinka. Sie stillt ihr Kind in Berlin, während draußen braune Horden das Horst-Wessel-Lied grölen. Sie bettelt um Brot in den Jahren der Hungersnot in der Ukraine. Sie steht im Zimmer, als ihr Sohn im Großen Terror 1937 von Stalins Schergen verhaftet wird.
„Wir sehen der Sixtinischen Madonna hinterher und bewahren den Glauben, dass Leben und Freiheit eins sind, dass es nichts Größeres gibt als das Menschliche im Menschen“, schließt Grossman.
Literaturangaben:
GROSSMAN, WASSILI: Tiergarten. Claassen Verlag, Berlin 2009. 316 S., 24,90 €.
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