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„Das Museum der Unschuld“ als Hörbuch

Orhan Pamuks Istanbuler Liebe zwischen Tradition und Moderne

© Die Berliner Literaturkritik, 09.01.09

 

Sie sind reich, sie sind jung, sie sind schön, sie haben im Ausland studiert. Religion spielt in ihrem Leben kaum eine Rolle. Kopftuchtragende Frauen aus Anatolien verachten sie. Obwohl sie nicht verheiratet sind, schlafen sie miteinander: Kemal und Sibel sind ein typisches Paar der Istanbuler Oberschicht. Aber so auf- und abgeklärt, wie sie auf den ersten Blick scheint (und scheinen möchte), ist die Jeunesse dorée, zu der Kemal und Sibel gehören, nun doch nicht. Doch davon später.

Wir schreiben das Jahr 1975. Kurz vor seiner Verlobung mit Sibel sieht der dreißigjährige Fabrikantensohn Kemal seine arme und nach der Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb bei der Familie in Ungnade gefallene entfernte Verwandte Füsun nach Jahren wieder. Er hat sie als kleines Mädchen in Erinnerung, nun ist sie eine junge Frau von achtzehn Jahren, naiv und strahlend schön. Kemal verliebt sich auf der Stelle in sie. Unter dem Vorwand, ihr Nachhilfe in Mathematik geben zu wollen, trifft er sich mit ihr in einer Wohnung, in der seine Mutter ausgemusterte Möbel und irgendwelchen Nippes abstellt. Es entwickelt sich eine leidenschaftliche Affäre zwischen den beiden.

Sechs Wochen später. Kemal und Sibel feiern ihre Verlobung im Hilton-Hotel. Die Feier ist größer und teurer als die eigentliche Hochzeit der meisten Istanbuler – und Kemal hat Füsun und ihre Eltern auf die Gästeliste gesetzt. Zu fortgeschrittener Stunde tanzt er, schon reichlich alkoholisiert, mit seiner Geliebten, und die beiden verabreden, sich trotz der Verlobung weiterhin zu treffen.

Am nächsten Tag wartet Kemal vergebens. Am übernächsten Tag auch. Füsun verschwindet für Monate. In seinem Kopf ist sie weiterhin präsent. Der Liebeskummer nimmt einen zentralen Platz in Kemals Leben ein. Neben einer depressiven Symptomatik entwickelt er diverse psychosomatische Beschwerden: In seinen Innereien frisst ein physischer Schmerz. Mit Sibel kann er nicht mehr schlafen; die beiden verstehen sich überhaupt nur noch, wenn sie hinreichend angetrunken sind. Allmählich leben sie sich auseinander, aber Kemal behält den Grund seines Leidens für sich. Während Sibel mit Freunden in Paris Urlaub macht, zieht er in ein Hotelzimmer in einem heruntergekommenen Viertel, in dem er den Grundstein für seine jahrelange Leidenschaft legt, Dinge zu horten, die ihn an Füsun erinnern. Zuerst interessieren ihn nur Gegenstände, die die Geliebte tatsächlich selbst berührt hat, da er glaubt, ihr Geruch hafte noch an ihnen. So sammelt er Zigarettenkippen, an denen noch ihre Lippenstiftspuren kleben, Nippes, mit dem sie gedankenverloren gespielt hat, schließlich aber weitet er seine Sammelleidenschaft aus auf alles, was in ihm die Erinnerung an das Istanbul der Zeit, in der ihre Liebe gefallen ist, wachruft.

Endlich, Monate später, erreicht ihn ein Brief Füsuns mit einer Einladung zum Abendessen. Kemal ist überglücklich – bis Füsun ihm zu diesem Anlass ihren frischgebackenen Ehemann vorstellt. Unter fadenscheinigen Vorwänden besucht Kemal sie und ihre Familie jahrelang und entwendet aus ihrem Haushalt weitere Gegenstände, die Zeugen sein sollen für die Liebe der beiden und das Istanbul der siebziger Jahre.

Kemal sieht ein, dass Füsun froh sein konnte, einen Mann zu finden, der sie heiratete, obwohl sie keine Jungfrau mehr war. Auch an der Figur Sibels, die Kemal schließlich ihren Verlobungsring zurückschickt, wird deutlich, dass sich die Jugend der siebziger Jahre gern modern und aufgeklärt gibt, aus der jahrhundertealten islamischen Tradition aber nur schwer ausbrechen kann.

Fünfundzwanzig Jahre später bereut Kemal immer noch, Füsun nicht sofort einen Heiratsantrag gemacht zu haben; er hat stattdessen ein Museum gegründet, in dem er alle seine gesammelten Objekte ausstellt, das „Museum der Unschuld“. Der Roman liest sich wie ein kunstvoll ausformulierter Ausstellungskatalog dazu.

Mit seinem neuen Roman entführt uns Orhan Pamuk in eine uns kaum bekannte Welt. Das Istanbul der siebziger Jahre ist einerseits erstaunlich modern, andererseits aber auch seinen Traditionen verschrieben, die nun einmal in der Religion wurzeln. Dieses Dilemma beschreibt Pamuk mit feiner Ironie, aber auch einer großen Portion Anteilnahme. Für die Liebe und das daraus resultierende Leiden Kemals findet er einfühlsame Worte. Er versteht es, den Leser schon früh dunkel ahnen zu lassen, dass die Geschichte der beiden Liebenden keinen guten Ausgang nehmen wird, und dennoch bis zum Schluss die Spannung aufrechtzuerhalten, die einen bemerkenswerten Kontrast bildet zu der eher mageren äußeren Handlung des Romans – chapeau! „Das Museum der Unschuld“ ist neben einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte und einem Museumskatalog aber nicht zuletzt auch eine Hommage an das Istanbul der siebziger Jahre, einen Ort, den es heute, nach einem Vierteljahrhundert des eifrigen Abreißens, Planierens und Neuerrichtens, nicht mehr gibt. Beide, Roman und Museum, konservieren ein (Lebens-)Gefühl, und, um Kemal (und damit Pamuk) zu zitieren: „Ist nicht eigentliches Ziel von Roman und Museum, unsere Erinnerungen so aufrichtig wie möglich zu erzählen und dadurch unser Glück in das Glück anderer zu verwandeln?“ Ohne das Museum der Unschuld jemals betreten zu haben: Der gleichnamige Roman hat dieses Ziel definitiv erreicht.

Das 18 CDs umfassende Hörbuch, das den Roman ungekürzt wiedergibt, wird von Ulrich Noethen gelesen, dessen warme, ruhige Stimme das Epische an Pamuks Roman unterstreicht. Ein Genuss für die Ohren.

Von Tina Rath

Literaturangaben:
PAMUK, ORHAN: Das Museum der Unschuld. Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2008. 572 S. 24,90 €.
PAMUK, ORHAN: Das Museum der Unschuld. Der Hörverlag, München 2008. 18 CDs, 49,95 €.

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