Viele erinnern sich beim Namen John McEnroe an den fluchenden, seinen Schläger zertrümmernden Tennis-Rüpel (den Spitznamen „Super-Brat“ erwarb er sich mit aller Berechtigung), erfüllt von unbändigem Zorn, Exzentrik und innerer Zerrissenheit. Zugleich ist natürlich auch sein begnadetes Spiel in das kollektive Sportgedächtnis eingebrannt, das erstaunliche Ballgefühl, die Unberechenbarkeit seiner Schläge, die so unkonventionell waren, dass man sie in keinem Tennis-Lehrbuch nachlesen konnte. John McEnroe war anders als die anderen Spieler, er war besonders.
Tim Adams, verantwortlicher Literaturkritiker beim Londoner Observer, widmet seinem großen Idol mit dem 2004 veröffentlichten „Being John McEnroe“, das nun ins Deutsche übersetzt wurde und beim Berliner Verlag erscheint, einen bemerkenswerten literarischen Essay.
Tim Adams liefert bewusst keine klassische Biografie ab, sondern fokussiert sich vielmehr auf einige ausgewählte Schlaglichter im sportlichen Leben des enfant terrible und reflektiert darüber hinaus wichtige gesellschaftliche und sporthistorische Veränderungen, die mit McEnroes Karriere einher gingen. So wurde dessen erster Auftritt als 18-jähriger Qualifikant beim Turnier in Wimbledon zu einem ähnlichen Affront für die feine englische Gesellschaft wie der gleichzeitige Durchbruch der Punk Band Sex Pistols, die zu nichts weniger als „Anarchy in the UK“ aufriefen. McEnroe als Schläger schwingender Johnny Rotten?
Tatsächlich prallten 1977 zwei konträre Welten aufeinander. Der All England Club, der alljährlich das wichtigste Tennisturnier veranstaltet, war eine höchst elitäre, teils aristokratische Upper-Class-Gesellschaft, die von den Spielern vor allem tadelloses Auftreten erwartete, dazu das englische Publikum auf dem Centre Court, das sich vornehmlich reserviert verhielt und – Erdbeeren mit Sahne verzehrend – allenfalls ein höfliches Klatschen bei gelungenen Ballwechseln oder ein gelegentliches Hüsteln bei den Seitenwechseln von sich gab. Und dann kam McEnroe. Der halbstarke US-Flegel (der übrigens „besserer“ Herkunft und Sohn eines erfolgreichen New Yorker Anwalts war), lautstark pöbelnd, Schiedsrichter beschimpfend, seinen Holzschläger schmeißend und beim Eröffnungsmatch beinahe gar zerbrechend – einfach unmöglich, ja shocking!
Die Buh-Rufe der alle vornehme Zurückhaltung über Bord werfenden Zuschauer war für McEnroe, wie Adams feststellt, „Musik in seinen Ohren“, und er erreichte bei seiner Premiere an der Anfield Road gegen alle Widerstände sogleich das Halbfinale. Diesen clash of civilizations schildert der Autor äußerst pointenreich, ebenso wie er sehr sorgfältig das Besondere an McEnroes filigranem Spiel analysiert. Insbesondere im Kontrast zu seinem großen Pendant der Anfangsjahre, dem Schweden Björn Borg. Arthur Ashe, seines Zeichens Wimbledonsieger 1975, beschreibt das im Buch folgendermaßen: „Bei Björn Borg hatte man immer das Gefühl, er bearbeitet einen mit einem Vorschlaghammer, während McEnroe mit einem Stilett vorgeht. Er schlitzt die Leute einfach auf (…) Er versetzt einem kleine Stiche, mal hier, mal dort, und bald fließt überall Blut, auch wenn die Wunden nicht tief sind. Und es dauert nicht lange, und dann ist man verblutet.“
Überhaupt Björn Borg. Er war, wie Tim Adams analysiert, mehr als ein kongenialer Gegenspieler McEnroes, er war sein psychologischer Antrieb, der entscheidende Impuls zur Perfektionierung des eigenen Spiels, und genau darum ging es McEnroe. Siegen allein reichte nicht, er wollte herausgefordert und zur Perfektion getrieben werden. Adams sieht hierin, neben einem konstatierten Mutterkomplex, die entscheidende Prädisposition für McEnroes augenscheinliche innere Unruhe, seiner Zerrissenheit und fast selbst zerstörerischen Unzufriedenheit, die sich in den massiven Ausbrüchen Platz verschaffte.
Nachdem Borg im Anschluss an die US Open 1981 (nach einer Niederlage gegen McEnroe) vom Profitennis zurückgetreten war, blieb beim US-Amerikaner eine gähnende Leere zurück, die durch alle späteren Triumphe, Wimbledon-Siege inklusive, nicht aufgefüllt werden konnte. Tim Adams psychologische Ausführungen wirken, so gewagt sie sein mögen, durchaus schlüssig – vor allem aber erhöhen sie das eigentliche Spiel zu einem Schauplatz enormer innerer Kämpfe. Meisterhaft arbeitet der Autor die Psychologie des legendären Wimbledonfinals von 1980 heraus, dem dramaturgischen Höhepunkt des gesamten Buches. Der Seriensieger und unumstrittene Star des Tennissports, Björn Borg, ringt das aufstrebende Riesentalent McEnroe in fünf hart umkämpften, an Dramatik nicht zu überbietenden Sätzen nieder (ein letztes Mal übrigens, denn ein Jahr später bezwang McEnroe den Schweden und läutete den Generationswechsel ein).
Die Schilderung dieses Finales von 1980 zählt zum Besten, was es im Genre der Sportliteratur zu lesen gibt: „Wenn ich mir heute die Videoaufnahme wieder ansehe, so wirkt McEnroe, als wolle er auch den zweiten Satz in aller Ruhe hinter sich bringen. Er spürt, dass Borg nicht ganz auf der Höhe ist, geht hier und da ein kleines Risiko ein, spielt den Ball hart an die Linie. Aber noch beherrscht er das Spiel. Borg kann seinen Aufschlägen nichts entgegensetzen, bemüht sich einfach, sein eigenes Aufschlagspiel durchzubringen. Dann, beim Stand von 5:5, findet er sein Ballgefühl. Er bewegt sich besser, hat plötzlich sein Aufschlagspiel zu null durchgebracht und schafft zum ersten Mal ein Break. Der Satz geht an ihn. McEnroe sieht aus, als wäre er aus einem Hinterhalt angegriffen worden. Er wirkt gedemütigt, geht in die Hocke, schiebt die Unterlippe vor, ein Tränenausbruch wäre denkbar.“
Oder an einer anderen Stelle, über einen Moment im vierten Satz, als Borg bei eigenem Aufschlag 40:15 führt und zwei Matchbälle hat: „Man konnte richtig sehen, wie McEnroe, in Erwartung des nächsten Aufschlags, sein Arsenal durchsuchte, in der Hoffnung, etwas zu finden, das er Borg entgegenschleudern konnte – sogar auf meinem flimmernden Fernseher war das zu sehen. Es erinnert an diese wunderbare Szene in dem Film When we were kings, wenn die Kamera auf dem Gesicht von Muhammed Ali ruht, der im Kampf gegen George Foreman alles ausprobiert hatte und nun beschloss, die nächsten Runden einfach laufen zu lassen, um Foreman auf diese Weise zu ermüden. Vielleicht ein wenig in diesem Geist schaut McEnroe zu Boden, scharrt ein paar Sandkrümel von der Grundlinie, überlegt, gegen wen er da eigentlich spielt. Und dann schlägt er zwei erstaunlich perfekte Returns, spielt den Ball über den ganzen Platz, setzt Borg unter Druck und schließt mit eiskalten Passierbällen ab. Er beendet das Spiel mit zwei atemberaubenden Rückhandschlägen, schlägt den Ball, nein, hebt ihn punktgenau über das Netz. Und ist, fast schon besiegt, nun wieder im Spiel.“
Über die sportlichen Triumphe hinaus analysiert der Autor zudem die zunehmende Kommerzialisierung des Tennissports, den grundlegenden Wandel hin zur Tennis-Industrie, an dem McEnroe, die erste Werbe-Ikone des aufstrebenden Sportschuh-Herstellers Nike, entscheidenden Anteil hatte. Ein Wandel, der das Spiel rasant beschleunigte, die spielerischen Elemente aus den Zeiten der Holzschläger deutlich verringerte, der den Spielplan im Dienste des Kommerz immer weiter aufblähte und die Spieler zu echten „Marken“ machte, oder auch degradierte, wie man will. Tim Adams rümpft über diese Veränderungen nicht die Nase, er analysiert sie lediglich.
Sind wir Leser, gemeinsam mit dem Autor, aus dem rätselhaften John McEnroe am Ende ein wenig schlauer geworden? Vielleicht liegt der jugendliche Tim Adams ja gar nicht so falsch, der an einem verregneten Sommertag im London des Jahres 1983 ansteht für Achtelfinal-Karten eines McEnroe-Matches und sich die Zeit mit der Lektüre eines Buches von J.D. Salinger vertreibt. Salinger deshalb, weil er kurze Zeit zuvor den „Fänger im Roggen“ gelesen hat und sich beim zornigen Holden Caulfield ein wenig an seinen Tennis-Helden erinnert fühlte. McEnroe als zorniger Rebell, der auf die Regeln der Erwachsenen pfeift und so recht nicht über die Eitelkeit und Egozentrik eines pubertierenden Teenagers hinaus gekommen ist? Das mag passen, aber große Genies – ob in der Kunst oder im Sport – haben ein gutes Recht auf ihre Eigenarten.
Von Dominik Rose
Literaturangaben:
ADAMS, TIM: Being John McEnroe. Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Berlin Verlag, Berlin 2008. 142S., 16 €.
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