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Das Phänomen des Spracherwerbs

Das Sachbuch „Spracherwerb“ von Gisela Klann-Delius

© Die Berliner Literaturkritik, 09.02.09

 

STUTTGART (BLK) – Im Oktober 2008 ist im Metzler Verlag das Sachbuch „Spracherwerb“ von Gisela Klann-Delius erschienen.

Klappentext: Für das Phänomen des Spracherwerbs gibt es vielfältige Erklärungsansätze. Ganz unterschiedliche Disziplinen beschäftigen sich damit: Linguistik, Entwicklungspsychologie, Verhaltensbiologie, Systemtheorie und Sprachpathologie. Der Band führt in die Problematik ein und präsentiert die wichtigsten Erklärungskonzepte. Neu in der 2. Auflage: u. a. Ergänzungen in den Bereichen Grammatik/Morphologie, Konstruktionsgrammatik, Pathologie, Bilingualismus.

Gisela Klann-Delius, geb. 1944, ist Professorin für Linguistik mit dem Schwerpunkt Psycholinguistik an der Freien Universität Berlin; Veröffentlichungen zum Spracherwerb, zu Sprache und Geschlecht sowie Sprache und Emotion. (jud)

Leseprobe:

© Metzler Verlag ©

1. Die Geschichte der Spracherwerbsforschung

„Es ist immer etwas höchst Bedenkliches, das Bestehende ohne Kenntnis seiner Vergangenheit erklären zu wollen“ (Geiger 1869, S. 111).

Die Kindersprachforschung wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Philosophen, Medizinern, Psychologen und Pädagogen begründet. Sprachwissenschaftler spielten hier noch keine bedeutende Rolle (vgl. Oksaar 1977, S. 13). Ziel dieser Forschung war, Natur und Wesen des Kindes mit Mitteln der empirischen Wissenschaften, d.h. in genauen und systematischen Beobachtungen, zu ergründen.

Voraussetzung für den Beginn der Kindersprachforschung sind verschiedene historische Veränderungsprozesse in den Lebensumständen wie in der Wissenschaft der damaligen Gesellschaften Europas. In Anknüpfung an den von John Locke (1632-1704) mitbegründeten Empirismus, der die Erfahrung zur Grundlage der Philosophie machte, hatten die Geisteswissenschaften begonnen, sich von der Philosophie zu emanzipieren, in Einzelwissenschaften auszudifferenzieren und sich an dem von Auguste Comte (1798-1857) propagierten Positivismus auszurichten, dem zufolge die Wissenschaften die Frage nach letzten Ursachen aufzugeben und sich in ihrem Erkenntnisinteresse den bestehenden Tatsachen zuzuwenden hätten. Grundlage der Wissenschaften ist nun die Beobachtung, das Sammeln von positiven Daten, von denen aus allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erschließen sind. Dementsprechend schreibt der Sprachwissenschaftler Lazarus Geiger programmatisch in der Vorrede zu seinem Buch Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft 1868:

„Während die Philosophie lange Zeit den Anspruch erhob, über die inneren Gründe der Natur- und Geisteserscheinungen aus sich heraus zu entscheiden, hat nun umgekehrt die Naturwissenschaft durch Eindringen in das körperliche Wesen der Welt den philosophischen Problemen ein concreteres Ziel als je vorher gezeigt, und es entfaltet sich nunmehr vor uns die Aufgabe, ebenso auch für die dunkle Innenseite der Dinge, für das Denken, Wahrnehmen und Empfinden, in einer nicht weniger empirischen Wissenschaft ein neues Licht zu suchen“ (Geiger 1868, S. XIVf.).

Ein weiterer, die Entwicklung der Kindersprachforschung begünstigender Faktor war das zu dieser Zeit aufkommende evolutionäre Denken, von Charles Darwin in seinem Buch On the origin of species by means of natural selection 1859 theoretisch verallgemeinert. Hinzu kam, dass mit Rousseaus Erziehungsroman Émile (1762) der Gedanke einer eigenartigen und eigenwertigen Entwicklung des Kindes formuliert und von den Philanthropisten in Deutschland verbreitet wurde (vgl. Richter 1927, S. 3ff.). Die pädagogische Konsequenz dieses Gedankens ist, dass die Erziehung sich der kindlichen Entwicklung anzupassen habe, das Kind selbst an eigenen Erfahrungen lernen solle. Aus dem hiermit begründeten Interesse an der Eigenständigkeit und den Kompetenzen des Kindes lässt sich nicht schlussfolgern, dass Kinder, wie Ariès in seiner Geschichte der Kindheit (1979, S. 108) postuliert, erst nach Ausgang des Mittelalters als Kinder und nicht mehr wie zuvor als Erwachsene in Miniaturformat betrachtet wurden (vgl. de Mause 1977, S. 18f.; Shahar 1993, S. 111ff.). Wie Shulamith Shahar in ihrem Buch Kindheit im Mittelalter dokumentiert, gab es durchaus die Vorstellung, dass die Kindheit, die in die Entwicklungsphasen der infantia, der pueritia und der adolescentia gegliedert wurde, einen von den Erwachsenen unterschiedenen Status hatte. Aber das Interesse an zumindest der ersten Entwicklungsphase (von der Geburt bis zu ca. 7 Jahren) war weniger ausgebildet. „Die Vorstellung, daß solch ein Kind bereits eine vollständige menschliche Persönlichkeit verkörpere, wie wir heute allgemein glauben, kannte man nicht. Zu viele starben“ (Ariès 1979, S. 99). Tucker gibt gegenüber Ariès’ Interpretation zu bedenken, ob diese indifferente Sicht auf Kinder nicht vor allem deshalb weit verbreitet war, weil die entsprechenden historischen Dokumente fast ausschließlich auf männliche Erwachsene zurückgehen. Mütter hätten – so Tucker – ihre Kinder wahrscheinlich eher in ihren kindlichen Bedürfnissen erkannt (vgl. Tucker 1979, S. 22f.).

Weitere Faktoren, die das Interesse an der Erforschung des Kindes und seiner Sprache befördert haben, sind der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit und ein tiefgreifender Mentalitätswandel in der Einstellung von Eltern gegenüber Kindern, z.B. ausgedrückt darin, dass in England und Amerika im 18., in Frankreich im 19. und in Deutschland im 20. Jahrhundert Kinder meist wohlhabender Eltern nicht mehr zu Säugammen weggegeben wurden (vgl. de Mause 1980, S. 59).

© Metzler Verlag ©

Literaturangaben:
KLANN-DELIUS, GISELA: Spracherwerb. Sammlung Metzler, Band 321. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Metzler Verlag, Stuttgart 2008. 231 S., 14,95 €.

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