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Das schönste Buch 2010

Ein lyrischer Roman von Oswald Egger

© Die Berliner Literaturkritik, 16.02.11

MÜNCHEN (BLK) – Der lyrische Roman „Die ganze Zeit“ von Oswald Egger ist im Mai 2010 im Suhrkamp Verlag erschienen. Das Buch wurde als das „schönste Buch 2010“ ausgezeichnet.

Klappentext: „Was tue ich eigentlich die ganze Zeit, während ich denke, daß ich spreche?“ „Soll (will und kann) ich die Dinge mit den Augen derer sehen, die sie selber nicht mehr sehen oder noch nicht?“ – Die elfunddreißig Ichs, welche in Oswald Eggers lyrischem Roman wie augenblicklich umgehende Schelmwesen toben, verflüchtigen sich in etwas, was – seit Augustinus – die ganze Zeit verheißt: Aufmerksamkeit, Erwartung und Erinnerung in einem. Die Jetzt-Sätze der Erzählung springen feixend ineinander: Gnome, Habergeißen und anderes Wolkengetier erringen fabelhaftes Eigenleben und hüpfen von der Maskenbühne tolldreist ins Parterre der Ungereimtheit. Sie führen dort ungeheure, verblichene, oft schroffe Szenerien einer bald abenteuerlichen, bald wilden Jagd nach Vergeblichem auf, wobei gilt: Zeit ist Welt.

Oswald Egger wurde 1963 in Tscherms/Südtirol geboren. Er studierte in Wien Literatur und Philosophie. Seinen Abschluß machte er 1992. 1988-1998 war er Herausgeber der Zeitschrift „Der Prokurist“ sowie der „edition per procura“. In den Jahren 1986-1995 veranstaltete er die „Kulturtage Lana“. Von Oswald Egger wurden Gedichte in mehrere Sprachen übersetzt. Oswald Egger macht - neben Lesungen und Performances mit Aufführungscharakter - auch Ausstellungen und Künstlerbücher. Heute lebt er in Wien.

Leseprobe:

©Suhrkamp©

Bekenntnisse. Ich werde mich also auch noch über die Natur der Dinge der Natur erheben, stufenweise emporsteigen zu dem, der mich gemacht hat; werde kommen zu den gefilden wie geraumen Quartieren der Erinnerung, wo die Bilder ungezählter Vorstellungen lagern, welche über ihre Dinge durch die Sinne eingedrungen sind, bald vermehrend, bald vermindernd, bald verändernd, was die Sinne berührt hat; ferner jenes, das ansonsten gewahrsam bleibt und deponiert, was nicht vergessen und begraben ist. Dorthin eingetreten, möchte ich, daß das Gedächtnis hervortue, was ich gerade will – manches ist leicht, manches langwieriger zu fi nden, wie wenn es aus Abstrakta und aus Stapeln insgeheim ermittelt werden müßte.

Manches stürzt scharenweise hervor, und während ich anderes will und suche, ist es plötzlich aufgetaucht, als wollte es sagen: „Bin ich nicht auch noch da?“ Aber ich beseitige es – im Handumdrehen – aus den Augen der Erinnerung, bis sich zeigt und ereignet, was ich will, und zutage tritt aus dem Verborgenen. Manches trägt sich selbsttätig, in unverworrener Reihe zu, quasi auf Abruf, das Frühere weicht zurück und räumt Nachfolgendem ein, an seine Stelle zu treten, dem es Raum gibt und worin es zurückwich, noch ungewahr verwahrt, um dann wieder hervorzutreten, wenn immer ich es beides: auftauchen und erscheinen lassen mag. Das alles geschieht und tritt ein (oder passiert), so oft ich etwas aus dem Gedächtnis erzähle.

 

Da liegt alles aufbewahrt, distinkt und klar, nach seiner Art, jedes über seine eigene Öse eingedrungen: Licht und alle Farben und Formen von Körpern und Amorphem durch die Augen, durch die Ohren alle Arten von verworrenen Tönen; alle Gerüche durch den Weg der Nase, alles, was schmeckte durch den Zugang des Mundes, und durch das Gefühl jetzt des ganzen Körpers, was hart, was weich, was warm oder kalt, glatt oder rauh, schwer oder leicht, außerhalb oder innerhalb des Körpers war. Alles dies nimmt und liest, um es, wenn nötig, aufzubewahren und wiederzugeben, die große Halle, Halde des Gedächtnisses, und ich weiß nicht, welche insgeheimen, unsagbaren Gänge sich verzweigen, um alles, was durch sie zu ihm eintritt, zurückzulegen.

Dennoch gingen nicht die Dinge selbst darin ein, es sind deren Bilder und deren Vorstellungen im Denken gegenwärtig, welches sich ihrer erinnert. Aber wer kann sagen, woraus diese Erscheinungen gebildet sind und durch welche Sinne sie abgenommen und ins Innere verborgen wurden? Denn auch in Stille und Nacht rufe ich mir, wenn ich mag, Farben in Erinnerung und unterscheide zwischen Weiß und Schwarz und beliebigen anderen Farben, wenn ich will, und es vermengen und verwirren sich die Töne nicht als nicht, was ich gesehen habe und nach Betracht zog, das sich im Wort betont und abgesehen davon unabsichtlich aufbewahrt und unvernehmlich verborgen ist, sintern.

 

Töne höre ich heraus, wenn ich will, und sie sind zur Stelle. Auch während die Zunge ruht und die Kehle schweigt, singe ich doch, soviel ich will, und jene Farbabblätterungen, welche ebenbildlich da sind, stören und unterbrechen einander nicht, denn sie rufen ihren anderen Thesaurus auf, welcher im Ohr seine Sorites hat. So sei es auch mit dem übrigen, das durch die übrigen Sinne eingedrungen ist und verhäuft, woran ich mich, wenn ich will, erinnere: ich unterscheide Lilienduft von dem der Veilchen, selbst ohne daran zu riechen, und Honig vom Kochmost, das Zarte von Hartem, und ohne davon zu merken oder wiederholt zu schmecken: stell ich mir’s in der Erinnerung vor

Innenwendig tue ich dies im offenen Hof meines Gedächtnisses. Hierinnen sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtiger und alles, was ich davon wahrnehmen konnte – mit Ausnahme dessen, was ich vergessen habe. Da begegne ich mir selbst auch und bilde mich und mir von neuem, was, wann und wo ich agiert habe und wieder, wie ich zum Handeln gestimmt war. Dort ist alles, woran ich mich erinnere, gleich und gleich, ob ich’s selbst erfuhr oder von andern übernommen habe. Dieser Fülle entnehme ich bald diese, bald jene Abbildblätterung der Dinge, welche ich entweder selbst erfahren oder in Analogie mir schon bekannter anderer mutmaße, verwob das Vertraute aber mit Verblichenem.

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Und danach überlege ich, was in der Zukunft getan, gehofft werden und sich ereignen kann, und überlege dies, als wäre alles Areale areale Gegenwart. „Ich werde dies oder jenes tun“, sage ich – für mich – im ungeheuren mentalen Raum, der voll von Vorstellungen so vieler, mannigfaltiger Dinge ist, und dieses oder jenes möge folgen. „Ach, wenn dies oder jenes nur schon da wäre.“ „Möge Gott dieses oder jenes abwenden.“ So sage ich zu mir: und während ich so rede, sind die Vorstellbilder aller Dinge ausgesprochen da, von denen ich sprach, aus demselben Thesaurus des Gedächtnisses, und ich könnte diese nicht nennen und erkennen, wenn jene abwesend wären oder verschwiegen.

Dies ist die gewaltige Kraft des Gedächtnisses, überaus groß, mein Gott, ein weiter Innenraum, immens als unendlich. Wer je zu seinem Grund vorgedrungen ist? Und doch ist und bleibt es die Kraft meines eigenen Geistes, die meinem Wesen angehört, und dennoch fasse ich selbst nicht das Ganze, was ich bin oder sein kann. Der Geist ist zu eng, um sich selbst zu fassen. Und wo mag sein, was er sich-in-sich nicht faßt? Wäre dies und das Charakteristisch etwa außer ihm und sich, und nicht in ihm selbst? Wenn aber in ihm selbst, wie faßt er es doch nicht? Bewunderung und Bestürzung erfassen mich, inerte Unruhe und Staunen überwältigten mich.

 

„Und da gehen die Menschen dahin und bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Wogen des Meeres, die Wucht der Wasserfälle und Flüsse, den Umfang der Weltmeere, Bahnen und Trabanten der Planeten, aber sie vergessen dabei sich selbst“, ohne sich zu wundem, daß ich das alles, während ich davon redete, nicht mit Augen sah, und doch nur von Bergen, Strömen und Flüssen und Gestirnen sprach, die ich gesehen, und vom Ozean, welchen ich mir nur in Gedanken vorstellte, und schaute alles miteinander in so ungeheuren Räume von Gedächtnissen, als sähe ich es mir vor (vor mir), und doch, als ich sah und gesehen habe, zehrte ich die Dinge nicht auf mit meinen Augen, und nicht die Dinge sind in mir, sondern nur ihre Bilder.

Ob etwas sei, was es sei und wie es sei; was Augen sagen: das Diskrete in den Rissen der Iris, zerfließend, so behalte ich allerdings nur die Vorstellung der Töne, durch welche die Wörter zusammengesetzt sind und weiß (und weiß nicht), daß sie durch die Luft mit Geräusch hindurchgegangen und schon nicht mehr vorhanden sind. Die Dinge selbst, welche mit diesen Tönen bezeichnet sind, habe ich je weder körperlich berührt noch irgendwo sonst gesehen als im geistigen Sinne, und ihre Erinnerung bewahrt nicht ihre Bilder, sondern die Dinge selbst. Diese sollten, wenn sie es könnten, sagen, wodurch sie in Gedanken eingegangen waren und jetzt sind: ich durchlaufe alle Ösen meiner Haut, ohne zu wissen, wodurch etwas eingehend bleibt. Woher und wie haben Inhalte ihren Weg und Zugang zu meinem Gedächtnis gefunden? Ich weiß nicht wie – sie waren schon in mir da, bevor ich sie zu erkennen lernte, nur im Gedächtnis waren sie noch nicht. Versäume ich es, die Inhalte von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis zurückzurufen, so tauchen diese unwiederholt unter und verlieren sich in die gewissermaßen hinteren Innenräume, so daß sie von dort aus wieder neu hervorgebracht werden müssen, da sie nicht bleiben können, und wieder zusammengetrieben, dass sich-von-sich erneut abzeichnete, was aus einer disparaten Zerstreutheit zusammengelesen sei, von woher das Denken selbst seinen Namen hat: cogito, d.i. „durch wiederholtes Denken zusammentun“. Denn die Wörter cogo und cogito, also „ich treibe zusammen“, „ich denke wiederholt“, sind wie ago und agito Weg-zusammenhängende Iterationsformen des Amorphen, mit anderen Worten: Aktionsarten, wovon die Rede ist. – Augustinus

©Suhrkamp©

 

Literaturangabe:

EGGER, OSWALD: Die ganze Zeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 741 S., 44.80 €.

Weblink:

Suhrkamp


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