Er begann unter seinem richtigen Namen Hans Bötticher als seriöser Dichter mit „Gedichten“ (1910) esoterisch-sentimentaler Prägung. Aber schon 1912 folgte der Gedichtband „Die Schnupftabaksdose“, das aus dem Sprachwitz schöpfende und Unsinnserhellung betreibende Gegenstück zu den „Galgenliedern“ Christian Morgensterns, im Untertitel treffend als „Stumpfsinn in Versen und Bildern“ charakterisiert. Er enthält so bekannte Texte wie den vom „männlichen Briefmark“ und den von den zwei „Ameisen“, denen bei Antritt einer Australien-Reise bereits auf der Chaussee in Hamburg-Altona die Füße so weh tun, dass sie bleiben, wo sie sind. Von Ringelnatz selbst in zahlreichen Vorträgen als eines der zentralen Gedichtbände herausgestellt, enthält die „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“ bereits alle Elemente seiner Poesie: Bitternis, Melancholie, Clownerie, Leiden an der Zeit, harte Schale, hinter der aber eine „zarte Weltseele“ durchscheint. So lauten die Schlussverse mit der Anspielung auf den Kosenamen seiner Frau Lona Pieper („Muschelkalk“):
„Das ist nun kein richtiger Scherz.
Ich bin auch nicht richtig froh.
Ich habe auch kein richtiges Herz.
Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo
Im Muschelkalk.
Zeitlebens wollte Ringelnatz anders sein, als er sich gab. Aber er war rettungslos auf sich selber zurückgeworfen. Das hat er in grotesken lyrischen Figurationen ebenso rücksichts- wie rückhaltlos ausgesprochen. Denn Ringelnatz ist Bekenntnis- und Gelegenheitsdichter. Viele seiner Gedichte haben die Funktion von Briefen, Kartengrüßen, Widmungen, Dankadressen. Die Rückhaltlosigkeit von Ringelnatz resultiert dabei nicht in großen Worten, sondern immer im Bezug auf das Alltägliche.
Seine künstlerische Laufbahn begann Ringelnatz in der Schwabinger Künstlerkneipe „Simplicissimus“, wo er als Hausdichter und Kabarettist tätig war. 1920 erhielt er ein Engagement an der Berliner Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“ von Hans von Wolzogen. Er unternahm Tourneen im deutschsprachigen Raum und trug seine eigenen Dichtungen unter dem 1919 gewählten Namen Ringelnatz vor - der seemännischen Bezeichnung für das Glück bringende Seepferdchen, dieser Name sollte ihn schützen wie eine „Tarnkappe“. Er betätigte sich auch als Maler und schuf über 200 Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen.
Mit den beiden Bänden von 1920 war ihm der Durchbruch gelungen: „Turngedichte“ und „Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid“. Die „Turngedichte“ geben sich so, als ob sie der jeweiligen Turnübung synchron liefen. Jede einzelne Übung oder Sportart wird in Richtung der ihr innewohnenden Möglichkeiten übersteigert. Dabei wird das Groteske an den Punkt getrieben, an dem es in schieren Irrsinn umschlägt. Das Gedicht bricht in dem Augenblick ab, in dem sein Gegenstand zerbricht. Es ist, in übertragenem Sinne, ein Salto mortale mit tödlichem Ausgang. Zugleich sind diese Groteskgedichte durchweg literarische Parodien: Ringelnatz nutzt tradierte literarische Formen, Reminiszenzen, Assoziationen, Zitate und Fehl-Zitate, um im Medium des Turnens seine Zeit insgesamt lyrisch zu attackieren. In dem Gedicht „Während der Riesenwelle“ wird nicht nur ein gehobener poetischer Ton ad absurdum geführt, sondern auch eine spezifische windmacherische Variante wilhelminischen Heroismus, die, wie Ringelnatz beklagt, auch in den 20er Jahren noch nicht ausgestorben ist und künftiges politisches Unheil braut. Gelegentlich verwendete er die Form des Rollengedichts, um Leid, Groll, Angst, Hoffnung artikulieren zu können: „Die Lumpensammlerin“, „Stimme auf einer steilen Treppe“, „Worte eines durchfallkranken Stellungslosen in einen Waschkübel gesprochen“. Den täglichen Existenzkampf meistern seine Außenseiter und Armen mit einem Mundwerk, das sich um Konventionen und Etiketten wenig schert.
Das Rollengedicht wird schließlich an eine andere Figur delegiert, das andere Ich des Dichters, die „Tarnkappe“, die nicht verbirgt, sondern enthüllt: den Seemann Kuttel Daddeldu. Mit den moritatenhaften Seemannsliedern, in denen der Titelheld von wilden Seefahrten und nicht weniger chaotischen Binnenlandaufenthalten in Hafenkneipen, Bordells, bei der festen Braut Marie, die aus Bayern stammt, und Kindern in aller Herren Ländern Bericht gibt, tingelte Ringelnatz in den 20er und frühen 30er Jahren quer durch Deutschland. Die Moral, die sich auf diese Welt beziehen lässt, ist banal und nüchtern, zuweilen zynisch und brutal:
„Du musst die Leute in die Fresse knacken…
Und wenn du siegst: so sollst du traurig gehen,
Mit einem Witz. Und sie nicht wiedersehen.“
Der 1883 in Wurzen (Sachsen) geborene Ringelnatz hatte ohne Wissen der Eltern 1901 bis 1902 als Schiffsjunge und Leichtmatrose angeheuert, er diente als Einjährig-Freiwilliger in der Kaiserlichen Marine und war im Ersten Weltkrieg Leutnant zur See auf einem Minensuchboot. Das Seemannsleben war ihm also wohl vertraut. Im Rollengedicht wird eigene Erfahrung umgesetzt, und zwar in einer reduzierten Figur, Kuttel Daddeldu, dem jedoch ungeahnte bizarre Daseinsfülle zuwächst. Der Seemannskram, der in seinen Versen eingefangen ist, erzeugt, weil durch und durch prosaisch, eine ureigene poetische Aura. Kuttel Daddeldu sieht alles wie zum ersten Mal. Er ist von überwältigender Kindlichkeit, die keine Hemmungen, keine Tabus kennt. Die spezifische Art seines „Realismus“ besteht darin, dass er erkennt, dass die Realität ganz anders ist, als wir glauben, nämlich chaotisch, unkontrollierbar, undurchschaubar. Diese Kindlichkeit ist – das zeigen dann auch das „Geheime Kinder-Spiel-Buch“ (1924) und das „Kinder-Verwirr-Buch“ (1931) – nicht liebenswert, sondern bösartig, ja grausam. Durch diese Kindlichkeit ergibt sich ein Gefälle zwischen Kuttel Daddeldu und der Umwelt, in das er sich immer wieder von Neuem verirrt. Ringelnatz führt sein anderes Ich in unmöglichen Situationen vor und verweist damit auf die Unmöglichkeit der Welt überhaupt. „Die Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu“ endet in einer wüsten Schlägerei. Wo immer dieser Seemann auftaucht, wird die bürgerliche Welt, ja die Ordnung schlechthin, aufgestört. Dass seine Kindlichkeit dann immer wieder in Brutalität umschlägt, dass alle Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, auch darin liefert Ringelnatz ein Bild der Welt in grotesker Darstellung.
Die innere Misere der Weimarer Republik lässt sich aus Ton, Thematik und Tendenz seiner Gedichte aufs Genaueste erschließen. Eigene Verworrenheit und Lust am Verwirren bedingen einander wechselseitig. Je mehr sich Ringelnatz auf sich selbst, dickhäutig, aber hochgradig schmerzempfindlich, zurückzieht, desto stärker wird er zum Medium seiner Epoche. Instinktsicher bevorzugt er die Form der poetischen Epistel – so in „Reisebriefe eines Artisten“ (1927) oder „Flugzeuggedanken“ (1929). Die Epistel ist bei Ringelnatz nicht Mittel gedanklicher Kommunikation im Sinne der Aufklärung, sondern beiläufige, gebrochene, verschrobene Übermittlung von Gefühlen, Stimmungen, Befindlichkeiten. Ringelnatz liefert, auf der Erde und in der Luft umher getrieben, eine lyrische Topografie. Markiert wird nur das, was der Dichter zu assimilieren vermag. Der reisende Artist, Sinnbild des unbehausten Menschen, bewegt sich am Rande der Gesellschaft, er hat Angst, das Leben zu versäumen und verfehlt es dann auch wirklich permanent. Bescheiden, zermürbt, überflüssig, wagt er doch den Protest. Dass sich dieser Protest letzten Endes nicht politisch artikuliert, ist selber wieder politisches Symptom.
1928 erschien der zentrale Gedichtband „Allerdings“. Die Welt wird als bekannt vorausgesetzt, dann aber – mit der Beiläufigkeit des „allerdings“ – leise, aber energisch in Frage gestellt. Ohne rigoroser Moralist zu sein, unterscheidet Ringelnatz sehr genau zwischen Gut und Böse. Seine Liebe gilt den Kleinen und Unscheinbaren, sein Hass denen, die sich aufspielen, die mehr sein wollen, als sie sind. „Nichts stimmt, was mir begegnet“, stellt Ringelnatz fest. Bündiger hat keiner die Atmosphäre der 20er Jahre getroffen. Liebe und Freundschaft sind bei Ringelnatz nicht zu trennen. Denn jede Liebe ist Freundschaft, ist nichts weiter als zarte, das Eigensein des anderen achtende Berührung. Die Intensität des Fühlens verbirgt sich hinter scheuen Gesten, deren Unbeholfenheit sich auch sprachlich manifestiert. Bevorzugte Geste ist die Geste des Schenkens, in der immer zugleich auch die Geste des Opferns verborgen ist. Wenn Ringelnatz auf die Erfahrung des Einzelnen mit der Welt schlechthin zu sprechen kommt, dann versagt stets eines am anderen. Dieses Versagen wird vorzugsweise in Monologen ausgesprochen. Die Reduktion des lyrischen Ich vom Menschen auf das Tier dient dann gelegentlich dem schärferen Herausarbeiten dieses Versagens. Dabei schlagen Strukturelemente der tradierten Fabel durch. Hinzu tritt die Wortverkehrung, der Wortwitz, das Wortspiel. Doch allzu oft sinkt das Wortspiel auch zum Kalauer ab. Stärker ist Ringelnatz dort, wo er sich die Auflösung der Sprache als Medium der Kommunikation zunutze macht. Einsamkeit ist, verschärft, Kommunikationslosigkeit. Wo dieses Problem thematisiert wird, das sind die Gedichte über Dichtung. Vermittels des Gedichts wird demonstriert, dass es unmöglich ist, Gedichte zu schreiben. Auch das „Unanständige“ vieler Gedichte von Ringelnatz ist wohl nur eine Form, diese „Unmöglichkeit“ zu bekunden.
Im öffentlichen Bewusstsein hatte sich Ringelnatz zwar das Image eines Komikers und Humoristen geschaffen, als ernsthaften Dichter hat ihn dabei aber kaum jemand wahrgenommen. Erich Kästner hat das schon 1924 bedauert: „Es ist so traurig, dass sich die meisten gewöhnt haben, über Ringelnatz als einen Hanswurst und Suppenkaspar zu lachen. Erkennen denn so wenige, dass man keine Kabarettnummer, sondern einen Dichter vor sich hat? … Ringelnatz ist ein Dichter. Und bei Gott kein geringer.“
Das beweist auch augenscheinlich das „Große Lesebuch“, das der Fischer-Taschenbuchverlag jetzt zum 125. Geburtstag dieses Verfassers phantastisch-grotesker Lyrik herausgebracht hat. Der Wandel und das Unbestimmbare bei Ringelnatz wird in allen Spielarten gezeigt: witzig und voller Tristesse, deftig und zart, spielerisch und erschütternd ernsthaft, aber auch sentimental-romantisch, lyrisch-heiter und bizarr-grotesk oder unheimlich bis gewalttätig-abstossend. Sport- und Turnergedichte, Kinderlyrik, Großstadt- und Seemannsgedichte, Lieder, Parodien, Episteln, Epigramme, Chansonnetten und Couplets und vieles andere mehr. In diesen Texten vermischen sich die Realitätsebenen, Namen assoziieren Eigenschaften und werden um neue Konnotationen erweitert. Ungewöhnliche Kombinationen bringen ursprüngliche Bedeutungen und Zusammenhänge ins Wanken. Da gibt es Brüche, Irritationen und Unvollständiges, das ergänzt werden muss. In seinen Bildern wie Texten ist die Imaginationskraft des Lesers oder Betrachters immer mit einbezogen. Eine köstliche Märchenparodie sind die Lügengeschichten, die Kuttel Daddeldu den Kindern über das Rotkäppchen erzählt und ihnen „sogar was dazu“ zeichnet (1923). Sie gehören zu der Art von Texten, die sich an Kinder und Erwachsene zugleich wenden. Ein Wagnis – aber warum nicht - ist der „…liner Roma…“ (1924), ein Berliner Roman in dadaistischer Collagetechnik, der weder über einen „ordentlichen Anfang“ noch über ein “rechtes Ende“ oder eine eigentliche Handlung verfügt. Es ist die Großstadt, die sozusagen die Handlung übernommen, die ihre der Apokalypse entgegentaumelnden Bewohner instrumentalisiert hat. Im Unterschied zu dem 5 Jahre später erschienenen Döblinschen Roman „Berlin Alexanderplatz“, in dem Franz Biberkopf im Dickicht der großen Stadt überlebensfähig werden soll, werden bei Ringelnatz keine Handlungsangebote gemacht, sein diagnostischer Text empfiehlt keine politische Therapie der gesellschaftlichen Missstände.
Unter der NS-Diktatur hatte Ringelnatz 1933 Auftrittsverbot erhalten und seine Werke wurden als „undeutscher Schmutz“ bei den Bücherverbrennungen ins Feuer geworfen. Sein Name stand auf der berüchtigten „Schwarzen Liste“ der aus den Bibliotheken zu verbannenden Bücher. Er starb verarmt 1934 an einer Lungenkrankheit in seiner Berliner Wohnung am Sachsenplatz, wo er in besseren Zeiten dem Gesang der „Nachtigall“ gelauscht und den Vogel gebeten hatte:
Nachtigall,
Besuche bitte ab und zu
Den Sachsenplatz;
Dort wohne ich. – Ich weiß, dass du
Nicht Verse suchst von Ringelnatz.
Literaturangaben:
RINGELNATZ, JOACHIM: Das große Lesebuch. Originalausgabe. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuchverlag 2008. 320 S., 8 €.
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